Am Fenster, fast noch mitten in der Nacht

Die kalte Luft weht durch das Fenster zur Straße. Der Verkehr steht still. Nach dem Regen in den letzten Tagen ist es etwas abgekühlt. Ich sitze am Schreibtisch im anderen Zimmer. Hier ist die Luft etwas stickig. Zum Schlafen ist es zu warm. Ich bin auch kaum noch müde, obwohl ich es planmäßig sein müsste. Es ist vier Uhr nachts. Durch das Fenster mit Blick in den Hinterhof sehe ich, dass der Fernseher bei den Nachbarn noch immer oder immer noch läuft. Ich erinnere mich nicht, dass das Gerät überhaupt einmal ausgeschaltet war.

Ich trinke einen Kaffee, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das klug ist. Wenigstens sind ab heute Ferien und ich habe keine externen Verpflichtungen. Fast keine. Muss noch Materialien vorbereiten. Wir sprechen später über Christa Wolf. Ich spreche noch häufiger über ›Christa Wolf‹ – zumindest vermute ich das. Ich habe es mir vorgenommen. Eigentlich ist es schon sicher. Das Aufsatzthema steht – inoffiziell gibt es schon einen Titel. Habe mir weitere Bücher bestellt. Bin gespannt, obwohl ich weiß, dass ich nicht alle sofort in die Bearbeitung nehmen kann. In der Warteschlange sind noch weitere Dinge. Schreibe über Remarque und Niedecken bis September und bis Ende des Jahres. Plane weitere Projekte und hoffe auf Abschlüsse. Spreche gerne über Literatur.

Nachts um vier denke ich an 2006 und an eine Wohnung in Mülheim. Damals dachte ich an den AXA-Turm, heute denke ich an damals. Ich denke an die letzten Nächte im Bett. Dann kommt die Lücke. Ich denke an Abende auf dem Camping-Platz – vor der Pandemie. Jetzt könnte man wieder fahren, aber es ist gerade nicht die Zeit. Jetzt, da sie alle in Urlaub strömen und die Erfahrungen der letzten Monate krampfhaft vergessen wollen, genieße ich den Sommer in der Stadt auf eine seltsam melancholische Art und Weise. Ich erfreue mich an der frischen Luft, die durch das Fenster dringt. Die Kühle ist seltsam materialistisch, der Sommer ist greifbar. Im Hintergrund der Häuser beginnt der neue Tag, der sich unbeschwert aus dem Gestern häutet. Ich beschließe, dass ich Lücken nicht weiter zu füllen gedenke.

Bis eben suche ich die Ruhe krampfhaft, um das Morgen zu gestalten. Um in der alltäglichen Routine zu verweilen. Dort, wo Unsicherheiten an Normalität gewinnen. Der Sommer bleibt auf seine Art eine Entlastung. Über all die Jahre hinweg ist das sicher. Er steht über den Dingen. Ich denke an einen anderen Morgen, als ich jugendlich die Nachtschicht verbringe. Die Menschen von damals sind dort geblieben. Ich musste seinerzeit weiter. Nun sitze ich hier an meinem Schreibtisch und bin nicht weitergekommen. Mache eine kurze Inventur der gesammelten Erfahrung. Im Hintergrund des Monitors leuchtet eine LED-Lampe. Ein Lüfter rauscht und wälzt die stehende Luft. Im Ohr singen Vögel, der Morgen kündigt sich an und ich bin fast genauso gelöst wie damals, als ich aus dem Club durch den Wald in das Bett kam. Nur der Morgen danach endet nicht nüchtern in der Besinnungslosigkeit, sondern in einem weiteren Kapitel der noch unfertigen Geschichte.

3 Episoden eines einfachen Tages mit Kindern im Homeoffice

Eigentlich bin ich heute Morgen aufgewacht und wollte ein Gedicht schreiben. Als Ablenkung von der Sache, die ich eigentlich hätte machen müssen und die immer noch auf mich wartet. Das Wort „immer“ scheint wie eine Art Damoklesschwert über allem zu hängen und die Zeit ist offensichtlich eine der scheiternden Unendlichkeiten. Unabhängig davon überwindet ein bisschen Sprache den einzelnen Moment und man fühlt sich kurz gut. Man ist im Gespräch mit sich selbst oder belauscht das Selbst im Gespräch – ja, mit wem eigentlich. Also seitdem die höheren Mächte ausgefallen sind und ansonsten nur hochspezialisierte Wissenschaften und ihre Teildisziplinen bleiben, seitdem fühle ich mich nicht einsam, auch nicht allein, aber irgendwie isoliert von etwas. Haltlos, sodass die Unendlichkeit eigentlich auch gar keine Kategorie mehr sein kann. Streng genommen ist die einzige Kategorie, die ich täglich überwinden muss, der Tag selbst – und sein Ende. Im Überwinden der eigenen Endlichkeit lenkt das Zuhören ungemein ab. Ich beobachte was da passiert mit den Stimmen die von überall kommen und ein riesiges Nebeneinander erzeugen. Man kann wirklich erstaunt sein, was man in der Welt so erfährt, ohne aktiv dabei gewesen zu sein. Einmal mehr wäre ich gerne ein guter Bibliothekar oder Archivar. Oder einfach ein Könner in Sachen Data-Management. Allein mir fehlen die Schlagworte mit zukünftiger Kohärenz. Ich scheitere an der Stringenz des ständigen Morgens und lege mich wieder hin. Im Traum setze ich mich noch einmal an den Schreibtisch und schreibe ein paar Verse.

An die Natur und an meine

Der Wald ist feucht
Er ruft nach dem Morgen 
Erwachen ist seine Bestimmung 
Eine Stimme pfeift durch das Unterholz 
Ein Tier ist nicht davon überrascht,
aber von etwas anderem. 

Das Grün schießt in die Blätter 
Kelche öffnen sich für die Fluten der täglichen Energie 
Eine Frau wandert und ist auf dem Wege 
Die Kinder tun es ihr nach, aber machen es nicht gleich
Ein anderer wartet auf der Lichtung 
Beständig regt sich der Tag 
Im Schatten der sorglosen Existenz –
schreitet die Arbeit voran und ergibt sich.

Er ist nicht alleine, sondern sie sind … wie viele? 
Unbestimmt hört man die Liebe
Die sich undefiniert über das Tal senkt 

In dem die Freude sich schwanger 
Auf die Geburt vorbereitet

* vor dem Abspann folgt eine Einblendung: „Fortsetzung folgt…“*

* Im Anschluss: – und tatsächlich klingelt zehn Minuten später der Wecker, wir stehen auf und treffen uns mit der ganzen Familie im Homeoffice und scheitern an der Ableitung einer schwierigen Gleichung. Das führt zu großem Gelächter, jahrgangsstufen- und klassenübergreifend. Danke, YouTube, ruft einer aus dem Nebenzimmer, – mit dir schaffen wir also auch die gar nicht so hohe Mathematik. Dem Internet sei Dank, die höhere Macht ist gefunden. Passend zur Gegenwart hört sie auf den Artikel „das“ und ist also offiziell Neutrum. Das klärt viele Fragen und einige Konflikte aus der Vergangenheit. Denkbar einfach ist nach einer Stunde das große Ziel erreicht. Es folgt noch etwas Zeit der schwachen Besinnung von Alltäglichkeiten. Nach acht Stunden klappen wir die Bildschirme zu und arbeiten gemeinsam weiter an unserer Zukunft.*