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Kommunikation und Verkehr

Meine Großmutter liebte meinen Großvater sehr. Sie beide hatten ihre Neurosen. Das zeigte sich im Telefon. Er überwand sich, damit sie sich weniger überwinden musste. Und sie verstand das. Das verband die beiden. Wenn es darüber hinaus Dinge zu klären gab, dann sprachen sie miteinander. Für die Großstadt hatten beide nicht viel übrig. Der Verkehr war ihnen gemeinsam suspekt geblieben. Einen Führerschein besaßen beide nicht. Sie gingen zu Fuß, fuhren mit dem Rad oder gar nicht. Zu uns kamen sie mit der Bahn, – das war aber eine seltene Ausnahme und vor meiner Zeit. Später kam nur noch meine Großmutter.

Wenn wir sie am Hauptbahnhof abholten, verließ sie den Waggon gegen die Fahrtrichtung und suchte schnellstmöglich den nächstgelegenen Treppenabgang. Unter vielen Menschen wurde sie unruhig. Das mochte sie nicht, weil sie sich immer sehr im Griff hatte und sie wusste, dass man es ihr ansah, wenn sie die Kontrolle über sich unter anderen verlor. Daher trafen wir sie erst etwas abseits der Stimmen auf dem Bahnhofsvorplatz. Dort verlief sich der Strom in verschiedene Richtungen und sie wurde ruhiger. Wir warteten in der immer gleichen, abgelegenen Ecke, das war die Vereinbarung, die wir stillschweigend nie trafen. Und wenn sie dann jedes Mal sehr bestimmt durch die Glastüren ging und auf uns zukam, griff sie sehr schnell und so bald als möglich nach meiner Hand wie nach der eines geheimen, vertrauten und lange vermissten Menschen.

Trotz ihrer Selbstbeherrschung sah ich in ihr immer das ganze Zittern der starken Empfindung und fühlte, wie sie in mich hineinsprach, wenn sie mich fragte, wie es mir geht. Sie suchte die Nähe, die sie manchmal nur dachte, und sie blieb in der Stadt eine Fremde. Sie sah durch mich die Enge, die sie betraf, und sie vergaß dabei, dass ich hier aufgewachsen und nie weggekommen war. In mir war all das ganz natürlich, gegen das sie so hart war, dass sich das Blut manchmal staute.

Kommunikationsneurosen der Großeltern

Nur eine Sache kam in Verbindung meines Großvaters gelegentlich zur Sprache, wenn bei einer Geburtstagsfeier das Telefon klingelte. Auf den technischen Ausbau der Kommunikationswege und die neue räumliche Erschließung hatte er wohl – positiv gesprochen – sehr zurückhaltend reagiert. Er habe es damals als Ende der persönlichen Freiheit ausgerufen, ein eigenes Telefon im privaten Haus zu besitzen. Lange hatte er es gegen jeden gesellschaftlichen Druck geschafft, sich einer solchen „Apparatur des Terrors“ nicht zu unterwerfen. Als man ihm dann, in Absprache mit meiner Großmutter, zum Geburtstag „sehr spontan“ doch eines schenkte und es zum vollständigen Gelingen der Überraschung gleich angeschlossen hatte, empfand er diesen gut gemeinten Akt der Zwischenmenschlichkeit zwar als etwas übergriffig, er konnte und wollte sich in seiner netten Art letztlich aber auch nicht dagegen wehren. Er verstand das Geschenk als durchaus gut und ernst gemeinte und sehr ehrliche Aufmerksamkeit seiner Freunde. Und schließlich hatte seine Frau in letzter Zeit schon häufiger den Wunsch geäußert, sich durch das Gerät einige Reisen in die Stadt sparen zu können.

Das verstand mein Großvater nur zu gut. Zudem konnte er seine innere Unsicherheit nicht weiter verleugnen, denn auch er zweifelte längst an seinem Vorurteil gegen den Fortschritt und er hatte die nicht nur im beruflichen Alltag wirksamen Vorzüge der neuen Technik bei einigen Freunden und Bekannten mittlerweile auch durchaus selbst zu schätzen gelernt. Aus einem inneren Bedürfnis nach Ruhe, Sicherheit und aus Angst vor möglicher Überwachung zog er den Stecker am Gerät dennoch bis auf eine Stunde am Tag. Die „Stunde der Erreichbarkeit“, wie er es nannte, wechselte er zufällig ab und man musste wirklich Glück haben, ihn oder meine Großmutter an den Apparat zu bekommen. Das machte es für Außenstehende schwer. Für Involvierte galt es, sich damit zu arrangieren oder dazu zu verhalten. Wenn wir sie besuchten, fuhren wir deshalb einfach hin. Bemerkenswerterweise überforderte sie der spontane Besuch kein einziges Mal. Jedes Mal, wenn wir durch ihre stets offene Haustür in die Diele traten, schlug die Überraschung sogleich in große Freude um.

Rückzug und Neuanfang

Gleichwohl hatte der Umzug als Rückzug und Neuanfang in gewohntem Gelände auch einen positiven Grund. Es war in dieser turbulenten Zeit zu einem Aufeinandertreffen gekommen, das sich als nachhaltig erwiesen hatte. An einem Freitag lernte sie beim Tauschen meinen Großvater kennen. Er war ein einfacher Mann gewesen, aufrichtig, treu und liebenswert. Sie trafen sich ein paar Mal, aber so kitschig es klingt: Beide wussten sofort Bescheid und vertrauten sich einander, dass es darum gehen würde, worüber man nicht sprach und was nun einfach passierte.

Vielleicht wäre mein Großvater  weiterer Rede wert, allerdings trafen wir uns nie persönlich. In Gesellschaft erzählten sie selten und wenig über ihn. Weder mein Vater, seine Mutter noch irgendwelche anderen Verwandten machten ihn zum Helden ihrer Anekdoten. Fotos gab es nur wenige. Ich erinnere genau genommen nur eins, auf dem er  einen sympathischen Eindruck gemacht hatte. Besonders fotogen erschien er  nicht zu sein. Zurückhaltend, schüchtern und ein „stattlicher Bursche“ mit dem man Pferde hätte stehlen, aber nicht darauf wegreiten können.

Episode zur Christlichkeit

– Als Randnotiz sei bemerkt: Das passierte dann doch. Mittlerweile war alles wieder sehr gut organisiert. Es gab mehr als genug Holz und zu viele gute Werkstätten. Als die Aufträge eine Zeit lang ausblieben und die Arbeit im Haushalt nicht mehr fremd vergeben werden konnte, stellte die Familie fest, dass niemand etwas von der Dynamik echter Sauberkeit verstand. Keiner hatte die praktische Veranlagung oder das nötige Talent zum Putzen und auch an der Übung fehlte es merklich. Sie versuchten sich mühsam, aber begriffen sehr schnell und zum ersten Mal wirklich, wie hilflos sie waren, wenn die Dinge nicht mehr einfach so – zu ihren Gunsten – vom Himmel fielen.

Ein paar Jahre später wurden die Spannungen dann so groß, dass die Familie daran zerbrach. Der alte Schulfreund des Vaters meiner Großmutter arbeitete mittlerweile Tag und Nacht in der Werkstatt und schreinerte alles, was irgendwie ein paar Mark brachte. Zuletzt waren das meist Särge im Auftrag der örtlichen Gemeinde. Sie wurden gebraucht für „Menschen, die ohne Hinterbliebene waren“ und ganz einsam und alleine in ihrem Haus oder ihrer Wohnung verstarben. Gemessen an dem geringen Ertrag, den das Bauen dieser Holzkisten der letzten Ruhe ihm einbrachte, verwendete er zu viel Zeit darauf.

Als es mal wieder länger als vereinbart dauerte und man ihn daraufhin kontaktierte, gab er sich bedingt einsichtig und äußerte offiziell, er wolle es den Verstorbenen wenigstens einmal „schön machen“ und er wisse um „seine Verantwortung für den ewigen Frieden“. Außerdem habe er aktuell sehr viel zu tun. Was nicht stimmte. Innerlich trieb ihn allein die Angst und das Bewusstsein darum, dass ausbleibende Aufträge den offensichtlichen Leerlauf zeigen würden, den es ja gab, den er aber weder sich, noch seiner Familie und schon gar niemandem sonst eingestehen wollte.

Nachdem alle Rücklagen aufgebraucht waren und er sich längst keine Mitarbeiter oder gar eine Haushälterin mehr leisten konnte, wartete seine Frau eines Abends nicht mit dem Abendessen auf ihn, sondern war einfach weg. Zusammen mit den Kindern. Kein Zettel, keine Nachricht – nur der Tisch war gedeckt: mit einem einzelnen Teller und einem silbernen Löffel, auf dem ein fremder Name eingraviert war.

Als ihm die Dinge sehr schnell klar geworden waren, ging er, ohne gegessen zu haben, konsterniert zurück in die Werkstatt und begann die arbeiten für ein neues Bett, das ein Kunde erst heute für sein ungeborenes Kind in Auftrag gegeben hatte und das er „schnellstmöglich und mit sehr viel Liebe“ ausliefern wollte. Während der Arbeiten geriet er dann aber in einer – wie es im späteren Bericht hieß – „unkonzentrierten Sekunde“ durch eine „offensichtliche Unachtsamkeit“ in eines der laufenden Messer. Er war nicht sofort tot. Der Unfall verlief aber so unglücklich, dass auch schnell herbeieilende Hilfe ihm nichts mehr gebracht hätte. Er stöhnte sanft und lag zunehmend lebloser in seinem Blut. Niemand hörte ihn. Man fand ihn erst zwei Wochen später, als der Kunde sich „dann doch einmal“ nach dem „Stand der Dinge“ erkundigen wollte und niemanden antraf, außer die Leiche, die irgendwie glücklich aussah.

Man beerdigte den Verstorbenen in einem seiner letzten Särge. Eigentlich eine Fehlproduktion. Die Kiste war seinerzeit etwas zu klein gewesen. Er hatte sich um etwa eine Kopflänge vermessen. Dem ursprünglichen Empfänger fertigte er daraufhin eine Neue an. Für den Schulfreund des Vaters meiner Großmutter passte der Sarg. Nicht perfekt, aber: „Wenn man ein Kissen unterlegt oder ihn etwas zusammenfaltet, dann geht‘s“, so hatte es der Gehilfe des Bestatters sehr pragmatisch festgestellt. Er winkelte die starren Beine mit etwas Mühe an, bevor er den Deckel, der wirklich nur leicht auf den Knien auflag, mit wenigen Nägeln für immer verschloss.

Die Gemeinde kümmerte sich sodann und beinahe rührend um die baldige Beerdigung. Man veranstaltete – „zwar sehr kurzfristig“, wie man sagte – aber dennoch sehr spontan und gleich am selben Tag noch eine eigens anberaumte Messe. Es kamen sogar ein paar Trauergäste, die wenig überrascht vom Verlust wirkten. Man kümmerte sich seitens der Gemeinde auch sehr fürsorglich um die Hinterlassenschaften der Familie des Verstorbenen. Mehrfach versuchte man Frau und Kinder zwecks des Erbes zu erreichen. Aber sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Offiziell erklärte man sie für unauffindbar. Was sie auch blieben.

Die Schornsteine rauchten im Winter fast schon wieder wie früher. Der vaterlose Sohn des Kaplans konnte alsbald die schließlich an die Gemeinde überschriebene Werkstatt ganz einfach und sehr kurzfristig übernehmen. Er war sehr dankbar um die göttliche Fügung und den kurzen Dienstweg. Seine Bestimmung war das Handwerk zwar nicht, aber immerhin glaubte er nun, endlich einer wirklichen Tätigkeit nachgehen zu können. Er schaffte sich das Notwendigste drauf.

Wenig später stieg – laut der offiziellen Bücher – die Todesrate der einsamen Seelen in der Gemeinde sehr plötzlich, aber dauerhaft an. Die Ausgaben für Schreinerarbeiten vergrößerten sich entsprechend. Zur gleichen Zeit blieb die Zahl der Beerdigungen konstant und ging sogar, im wachsenden Wohlstand, leicht zurück. Aufgefallen ist das scheinbar bis heute nicht. Wie auch. Das Geld verschwand, mit Sarg oder ohne, die Bücher blieben ungeprüft und man vertraute einander – blind und bis in den Tod.

***

Vom Anfang und Aufbruch

Sie hatte fünf Jahre in der Stadt gewohnt. Aber das war kurz nach dem Krieg, als der Verkehr noch mehr oder weniger brach lag und es andere Probleme gab. Alles begann sich nur sehr langsam zu ordnen und es gab noch Pfade ohne Namen. Hin und wieder machte man ein Geschäft auf der Straße. Geld spielte nicht die wichtigste Rolle. Man schlug sich irgendwie durch. Ihr Elternhaus lag draußen vor der Stadt und nach einem entweder unerklärlich unpräzisen oder aber sehr gezielten Bombentreffer nun in Schutt und Asche. Familie hatte sie seitdem keine mehr. Sie fand Zuflucht und eine Anstellung als Haushälterin bei einem alten Schulfreund ihres Vaters, der als Schreiner mitten in der Stadt wiederum Glück gehabt hatte, dass er und seine Werkstatt in dem ganzen Trubel völlig unbeschadet geblieben waren.

Zum Neubeginn entwickelte sich die wirtschaftliche Lage für ihn und seine Familie hervorragend. Handwerk war jetzt sehr gefragt. Es gab mehr Aufträge als Holz. Und er schlug überall dort auf, wo ein Schreiner gebraucht wurde. Er schlug auch dort auf, wo keiner gebraucht wurde, aber praktische Veranlagung vonnöten war. Natürlich nur, wenn es noch etwas zu holen gab. Das war längst nicht überall der Fall. Aber seine Dienste sprachen sich in entsprechenden Kreisen schnell herum. Nicht selten stand gleich morgens früh wieder einer vor der Tür des Hauses oder meldete sich in der Werkstatt, weil hier wie dort noch dies oder das zu erledigen sei und man könne sich dafür wirklich niemand besseren vorstellen als… Kurz gesagt: Die Nachfrage nahm gewisse Ausmaße an. Tendenz steigend. Täglich. Woche für Woche. Fast möchte man meinen: stündlich. Wenn er nicht persönlich kam, schickte er seine Leute. Letzteres wurde zur Regel. Mittlerweile hatte er eine gute Handvoll Hilfsarbeiter bei sich im Betrieb angestellt. Die meisten von ihnen waren zwar aus dem Krieg oder der Gefangenschaft zurück, aber längst noch nicht wieder zu Hause angekommen. Eigentlich kam niemand mehr dort an. Das wusste man damals aber noch nicht. Oder man war nicht ehrlich zu sich, seiner Situation und der Welt, in der man lebte. Vielleicht konnte man nicht anders. Man hatte ja zu dieser Zeit zumindest noch Hoffnung. Sie arbeiteten dafür und für ihn außer Haus und in seiner Werkstatt, wo sie auch schliefen und lebten, wenn sie nicht arbeiteten; was selten der Fall war.

Auch meine Großmutter konnte dort arbeiten, leben und wohnen. In anderer Funktion natürlich. Sie schlief nicht in der Werkstatt, sondern im Haus und kümmerte sich um den Einkauf und die Kinder. Ihr Ort war der Haushalt. Ihre Rolle klar definiert. Dafür wurde sie bezahlt. Sie kochte und putzte in einer Perfektion, dass es der eigentlichen Frau des Hauses die blasse Verwunderung und den Neid in die Augen trieb. Sie hatte daher später begründete Angst, man würde im Falle des Falles „für so etwas keinen Ersatz finden“. Damit sollte sie recht behalten. Als meine Großmutter die Stelle mit der Begründung aufgab, nun einen eigenen Haushalt auf dem Land ihrer Eltern begründen zu wollen, schlug Dankbarkeit in Missgunst um. Es kam zu einem Vorfall, der die Trennung schmerzlich erleichterte. Besonders von den Kindern fiel der Abschied schwer und auch der alte Schulfreund des Vaters meiner Großmutter fühlte sich im Herzen zwar dankbar verbunden und sehnte sich irgendwie nach „so einer Frau“. Er stellte sich beim Abschied dennoch auf die Seite seiner Angeheirateten, um die Zukunft des eigenen Hausfriedens nicht in Gefahr zu bringen.

Konsequenzen für die Großmutter

Es kam für meine Großmutter, nach einigen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, zum Tadel für den „Widerstand gegen Anordnungen von oben“ sowie das „Antasten der höheren Autorität“ in Vertretung des Klassenlehrers. Bloß angedroht wurde der Schulverweis im Wiederholungsfall oder „bei jeder nächsten Kleinigkeit“, wobei der Wortlaut hier bewusst Willkür implizierte. Hinzu kam die schlechte Note für die offiziell nicht erledigte und daher „fehlende Hausaufgabe“. Die schlechte Wertung schrieb sich fortan chronisch bis zum Ende der Schulzeit fort. Fächerübergreifend sprach sich der Vorfall herum und meine Großmutter kam nicht mehr auf einen wirklich grünen Zweig. Dies wurde nicht ausgesprochen, war aber als übliche Gepflogenheit offen bekannt. Es entspricht somit den nicht zu beweisenden, aber zweifelsfrei existenten Tatsachen in der Welt.

Zur Verkündung des Urteils von offizieller Stelle erfolgte am Tag nach dem Ereignis die Vorladung der Eltern beim Schulleiter unter Anwesenheit des Klassenlehrers. Es wurde dabei häufig von „Gewissen“ gesprochen. Die Eltern meiner Großmutter hatten Sinn für Humor, hörten sich die Klage des Lehrers an und sie gelobten Besserung im Namen der Tochter und in ihrer Erziehung. Sie schüttelten die Hände und erzählten ihrer Tochter beim Abendessen dann, dass es keinen Sinn habe, sich mit solchen Leuten groß anzulegen, da man ja doch den Kürzeren ziehen würde und man müsse schließlich sehr vorsichtig sein, dass man gegenwärtig nicht unter die Räder komme. Ihr Verhalten wäre bewundernswert mutig und sei auch mehr als angemessen gewesen, sogar notwendig in gewisser Weise; und ihnen wäre das eigentliche Dilemma, in dem sie sich befinde, durchaus bewusst: Mit ihrem Talent habe sie das Zeug dazu, später einmal an die Universität zu gehen. Es wäre allerdings wichtiger, hier und heute nicht zu kreativ zu werden. Gegenwärtig käme das nämlich jede Familie teuer zu stehen.

Meine Großmutter erholte sich von diesem Schock nicht mehr und schrieb danach nie wieder Zeilen auf. Ihr Tagebuch beendete sie abrupt. Wenn sie in seltenen Fällen mal unter Leute kam, trug sie zwar außergewöhnliche Sätze mündlich in den Raum, sodass sie in der Gesellschaft stets als belesene Frau erschien, doch sie machte sich aus dem Spiel des Bluffs nicht mehr als einen großen Spaß und beließ es dann dabei. Keiner ihrer Sätze wurde je in einem Buch gedruckt. Sie war auch nicht auf die Universität gegangen, sondern hatte sich mit dem Leben als Ehefrau und Mutter, verantwortlich für Grundlagen der Erziehung und Abwicklung des eigenen Haushalts, arrangiert. Und so sehr sich der Vorfall von damals und die Verhältnisse ihr entgegengestellt hatten, war sie doch keine gebrochene und nie eine unglückliche Frau, denn sie wusste, dass sie wenigstens einmal in ihrem Leben sehr großes Glück gehabt hatte und das Wissen darum machte sie noch glücklicher.

***

 

Handlungsweisen der Schulleitung

Der Klassenlehrer zeigte sich darauf einsichtig. Es hätte sich in keinem Falle gut gemacht, eigenmächtig die hier geltende Ordnung zu stören, bevor man an dieser oder anderer Stelle in den höheren Dienst eingetreten war. Er blieb in der Sache zwar anderer Meinung, aber der Schulleiter war ihm schließlich nicht nur als Vorgesetzter einen Schritt voraus, sondern in einer zentralen Angelegenheit ein echtes Vorbild: Er war früher einmal ein „höheres Tier“ gewesen und verbrachte nun hier an der Schule nur seine letzten Jahre, bevor die endgültige Entlassung aus dem Schuldienst und die wohlverdiente Pensionierung folgen würden. – Nüchtern betrachtet, war der Schulleiter ein ganz integrer Mann und im Grunde ein fortschrittlicher Mensch, nicht ohne Fehler, aber auch nicht völlig verkehrt. Er hatte in all den Jahren seines Schaffens viele Höhen genommen, Tiefen gemeistert und alle Abgründe gesehen. Trotz allem behielt er einen klaren Blick für die großen und oftmals sehr schwierigen Zusammenhänge der Welt, und er sah die Notwendigkeit zur Vermittlung im Kompromiss, auch wenn es manchmal gegen die eigene Moral ging.  Er litt daran, aber zeichnete trotzdem stets treu und verantwortlich mit seinem Namen, da auch ihm jede Form von Widerstand als potentieller Katalysator des Chaos Angst bereitete. Und er konnte es sich nicht eingestehen, dass auch er es als Junge vielleicht hätte einmal anders machen können, als die Möglichkeit da war und er es eigentlich wollte, so wie seine Schülerin.

Herrenrunde

– Bemerkenswert ist an dieser Stelle: Während des gesamten Vorgangs suchte der Schulleiter, dabei auf der höchsten Sprosse einer alten, wackeligen Holzleiter stehend, in der obersten Reihe seiner eigentlich sehr aufgeräumten Bibliothek irgendein ihm sehr wichtig gewordenes Buch, das er zwar lange nicht in den Händen gehalten hatte, nun aber wohl doch akut vermisste. Enttäuscht und erfolglos stieg er im Anschluss an die Rede des Klassenlehrers hinab und bedankte sich für den Halt, den sein Kollege ihm und der Leiter besorgt hätten – es sei ja der ein oder andere so auch schon… und aus der Höhe stürze man sich selten gesund. Zurück an seinem Schreibtisch sitzend, empfahl er dem Klassenlehrer dann – sichtlich enttäuscht von seiner erfolglosen Suche – weniger durch den „Erfinder“ zu sprechen. So etwas falle einem später nur noch einmal auf die Füße. Wenn er weiter an seiner Karriere ›schustern‹ wolle, wovon er persönlich ehrlich gesagt ausgehe, solle er also besser beachten, dass gemeine Erfinder nicht gern gesehen seien. Dies zeige der heutige Vorfall ja exemplarisch.

Nebengeräusche und Battlerap

– An dieser Stelle sei bemerkt: Meine Großmutter hatte durchaus Sinn für Phantasie, kannte ernsten Witz und verfügte über einen scharfen Blick für die Realitäten des Alltags.  Die Welt verstand sie trotzdem nicht so, wie sie die Leute scheinbar verstanden. Dennoch hätte sie durchaus das Zeug zur Schriftstellerin gehabt. Die Geschichte meinte es anders mit ihr. Als junges Mädchen waren ihr freier Geist, Feinsinn und das Talent zur Tat zum Problem geworden. Einmal weigerte sie sich, ein von ihr selbst am Vortag des Ereignisses geschriebenes Gedicht im Deutschunterricht gegen jenes aus dem Schulbuch zu tauschen. Das Gedicht meiner Großmutter hatte ungefähr die Länge der vorgegebenen Hausaufgabe und es war ihr natürlich doppelte Arbeit gewesen, die sie gerne gemacht hatte. Sie kannte auch das andere Gedicht auswendig, wie alle, die ihre Hausaufgaben stets sorgfältig erledigten – übrigens lag die Quote seinerzeit in aller Regel bei erstaunlichen 100 %  (in Worten: einhundert Prozent). An diesem Tag aber hatte meine Großmutter ihrer jugendlichen Freiheit zuliebe eine Entscheidung getroffen und das vorgegebene Gedicht zunächst gelesen, gelernt und trotz der ihr widrigen Sprache, beherrschte sie die freie Wiedergabe und hatte sich sogar Vers für Vers eine analytische Kommentierung des Textes erarbeitet. Allein, sie empfand den starken Willen dazu, den Widerspruch gegen das Fremde eigenmächtig in lyrisch raffinierter Form so aufzubereiten, dass man sich in verschiedenen Positionen nicht nur begegnete, sondern mit offenem Visier im direkten Duell von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Gedicht für Gedicht. Aussage gegen Aussage, Dichter vs. Dichterin. – Man kann durchaus sagen, dass meine Großmutter die Erfinderin einer frühen Form des Battlerap war, nur fehlt uns heute der Nachweis dafür. Das liegt vor allem an ihrem wenig musisch veranlagten und in seiner engstirnigen Kleinbürgerlichkeit wenig visionären, aber dafür damals völlig mit der Situation überforderten Klassenlehrer und ihrer Klasse, die kritischen Widerstand offensichtlich nicht als Chance begriff, sondern einfach nur als anstrengend empfand.

Was sie damals nicht zum Gegenstand der Verhandlung gemacht hatte, war, dass sie durchaus den von ihr erwarteten Vortrag hätte – wie alle anderen – einfach abliefern können. Nur suchte sie dieses eine Mal die Gelegenheit für das Eigene und entzog sich damit natürlich bewusst einer einfachen Bewertung im vergleichenden Verfahren. Sie plädierte dennoch dafür, es anders zu machen, da es sich um „eine gelungene Abwechslung gegen drohende Monotonie“ handele. Schließlich seien ja vor ihr immerhin schon dreizehn sehr gleiche Vorträge von kaum unterscheidbarer Qualität verhandelt worden. Durch ihren Beitrag würde nun eine sehr andere Perspektive auf den Gegenstand geleistet. Dies bewirke eine Kontrastanreicherung. Dadurch werde, auch aus bildungspolitischer Sicht betrachtet, eine als dringend notwendig zu erachtende Differenzerfahrung überhaupt erst möglich. Es sei also nur in ihrem Sinne, aber auch im Sinne aller anderen zu verstehen.

Sie argumentierte scharf für ihre Position, aber nicht sehr lange. Als junges Mädchen erklärte meine Großmutter sehr selbstständig ihre offene Bereitschaft zum eigenständigen Vortrag und machte ergänzend die Ankündigung, sich im Anschluss jeder positiven wie negativen Kritik stellen zu wollen. Sogar für Spott und Häme zeige sie sich bereit. Das abfällige Lachen pubertierender Jugendlicher kannte sie von ihren Mitschülern und vom Schulhof. Für gewöhnlich richtete es sich gegen die direkt sichtbaren Phänomene. Hier ging es aber um etwas anderes und um mehr. Auch das zu erwartende kurzgeistige Vorurteil ihres reaktionären Publikums hätte sie nicht davon abgehalten, ihre Sicht der Dinge im lyrischen Vortrag energisch zu verteidigen. Sie hätte all das ertragen, stand vor der Klasse und stellte sich, vor dem Pult des Lehrers, während dieser mit seinem hochroten Kopf neben ihr stand. Ihm stockte der Atem, nicht ihr. Die kurze Sprachlosigkeit im Anschluss an die Debatte im Vorfeld nutzte meine Großmutter und setzte mit dem Titel ihres Gedichtes zum Vortrag an. Allerdings kam sie dann nicht mehr weit und der Klassenlehrer kam zu sich. Er brach den Vortrag ab, noch bevor sie ihn wirklich anfangen konnte…

Meine Großmutter war schon als Mädchen eine „selten dämliche“ Frau. Sie war sehr klug. Damit hatte der Klassenlehrer in seiner Zuschreibung recht. Doch weil er genau das nicht verstand, schlug seine Einschätzung ihrer Person vollkommen fehl. Sie war bedingungslos aufrichtig und vom Herzen weg ehrlich und das überforderte ihn, weil er insgeheim wusste, dass genau das seine eigene Schwäche war, und er hasste die Konfrontation mit dieser Wahrheit, denn er fühlte sich stark und glaubte sich stärker. Da er hier, in dieser Institution in leitender Funktion für die Regulierung der Ordnung eingesetzt war, aber seine intellektuellen Mittel und sozialen Kompetenzen streng genommen (und ehrlich gesagt) inexistent, weniger streng genommen (und diplomatisch gesagt) immerhin sehr begrenzt waren, sehnte er sich in dieser Situation die Prügelstrafe zurück, die der Schulleiter aber ganz offiziell als „allerletztes Mittel humanistischer Bildung“ bezeichnete und die damit inoffiziell nicht nur nicht geduldet, sondern auch explizit untersagt war. Der Klassenlehrer aber wollte das „junge Ding“ – wie er seine Schülerin später im Wortlaut bei seiner nicht protokollierten und damit öffentlich nicht erfassbaren Meldung gegenüber dem Schulleiter nannte und bei der er sich offen über fehlende Disziplinierungsmaßnahmen beschwerte –, er wollte sie im Wiederholungsfall körperlich „züchtigen“ können und dürfen, da Worte allein hier nicht reichten, allein ihm würden an Ort und Stelle ja ohne Not die Hände gebunden und dies sei ja so wohl „nicht im Sinne des Erfinders“.

Stadtbild

In der Stadt war alles in jeder Hinsicht laut. Zu laut. Meine Großmutter hatte ein sehr feinfühliges Gehör von musischer Qualität, das mit dem industriellen Rauschen nicht wirklich zurechtkam. Wenn sie hier mal nichts hörte, blieb doch ein diffuser Lärm, der ihr Nervenkostüm derart strapazierte, dass sie über die Intensität ihrer reflexhaften Fürsorge jede Kontrolle verlor. Ich schätze, sie stand wirklich jedes Mal unter Hochspannung und war schlichtweg überfordert, wenn sie ihr Haus verließ und unseres nach einigen Stunden der räumlichen Überwindung betrat. Das hier war fremdes Gewässer. Doch das Schwimmen hatte sie nie gelernt und daher machten ihr Herausforderungen maritimer Natur begründete Angst. Meine Großmutter kannte nur den richtigen Wald und hatte fast ihr ganzes Leben im Dorf verbracht. Auf dem Land hielt sie den Kopf natürlich über Wasser. Orientierung fand sie abseits der ausgetretenen Pfade. Das Haus verließ sie nur, wenn sie neben Ruhe auch frische Luft suchte. Manchmal brachte sie von Spaziergängen Pilze mit. Nicht immer. Das Dorf verließ sie sonst nur, wenn sie zu uns zu Besuch kam.

Hier gab es fast nur Beton, Pflastersteine oder Asphalt; hin und wieder ein Baumkarree mit einem Häufchen Erde und Hund. Unsere Pfade waren nicht ausgetreten, sondern professionell verdichtet und wurden nicht infrage gestellt. Jeder hatte einen eigenen Namen, was meine Großmutter irritierte. Ein Abseits gab es nicht. Essbare Pilze auch nicht. Das Laub der wenigen Bäume wurde im Herbst sorgsam gekehrt. Ein Erfolgserlebnis für die Straßenkehrer, die den täglichen Müll nie beseitigen konnten. Auf der Oberfläche und sogar darunter (was meiner Großmutter zeitlebens ein Rätsel blieb), bewegten sich Menschen mit Dingen oder Gegenständen in und auf Objekten oder durch sie hindurch. Mobilität war stets gewährleistet. Wurde fast manisch praktiziert. Orientierung fanden technische Begleiter. Wenn es dunkel wurde, leuchteten sie. Manchmal stießen sich die Menschen dennoch aneinander. Natürlich. Alles flüchtig. Das Licht wie der drückende Nachthimmel und der unsichtbare Rauch auf der Straße über dem endlosen Asphalt. Tiefgründig drang alles in die Lungen. In alle. Es setzte sich fest. Drang ein, um zu verbleiben, während irgendwo ein Apotheker Hustensaft verkauft. Gegen die Erkältung. Den Schnupfen. Die drohende Gefahr. Für die Gesundheit. Ewiges Fieber. Anhaltend. Trotz isolierter Kapseln und Medikation. Panisch steigt irgendwo einer ein und ein anderer hektisch wieder aus. Dann Verkehr. Zähe Masse. Gestern und heute. Hin und her. „Hauptsache!“ Und morgen? Pferde aus Blech und Stahl mit einem Bauch voll raffiniertem Erdöl galoppierten bei jedem Wetter. Ihre Körper wurden warm; ja, sogar heiß! Ihr Geruch war seltsam. Anders; er hatte nichts mit Stall zu tun und roch doch wie der Atem eines toten Tieres. Manchmal vergewisserte man sich ihrer Existenz und nutzte dafür das eigens entwickelte Verfahren der Geschwindigkeitsphotographie. Sie mussten heizen. Sommer wie Winter. Kälte, Rekorde! Brechen und biegen. Karambolage. Das Rennen geht weiter. Bei jedem Wetter. Wetten. Darauf; Blitzlichtgewitter. Applaus.

Die Großmutter

Immerhin hatte ich es meiner Mutter schon damals leicht gemacht, da ich gleich zu Beginn etwas schmächtig war und wenig auf den Rippen hatte, wie es meine Großmutter nicht müde wurde, bei Familienfeiern zu betonen. Dabei fasste sie mir jedes Mal und manche Tage auch mehrmals so kräftig an meinen ihr nächstgelegenen Oberarm, dass ich hoffte, am darauffolgenden Tag keinen Schulsport zu haben, denn spätestens beim Schwimmtraining, das ich aus anderen Gründen hasste, wäre es dann zu Irritationen gekommen, die ein Vorsprechen meiner Eltern mindestens beim Klassenlehrer, vielleicht sogar beim Schulleiter und einen Folgebesuch des Jugendamtes bei uns zu Hause ausgelöst und den Hausfrieden von Amts wegen bedroht hätten.

Glücklicherweise lagen die Familienfeiern meist kurz vor den Wochenenden oder wenigstens nicht im näheren Bereich meines Sportunterrichts. Ich ersparte es mir und den Betroffenen so darauf hinzuweisen, dass eine wirkliche Klärung des Sachverhalts nur im Rahmen einer Geburtstagsfeier in unserem Hause zu erreichen sei, was wiederum beim Jugendamt für einen schlechten Scherz gehalten worden wäre und gleichzeitig dennoch der Wahrheit entsprochen hätte. Es wäre allen Beteiligten schließlich aber nur so sehr schnell klar geworden, dass es meine Großmutter auf ihre Weise im Grunde nur gut meinte. Am ringförmigen Hämatom änderte das natürlich nichts.

Ihre Hand schaffte es wenigstens in den ersten Jahren, also kurz nachdem ich das selbstständige Laufen gelernt hatte, die, zugegeben, auch in späteren Jahren noch nicht weniger bescheidene Muskulatur des Oberarms in einer Demonstration eigener Stärke ganz zu umschließen. Das änderte sich zwar im Laufe der Jahre und vergleichsweise schnell, weil selbst meine Arme an Umfang zulegten und die Mutter meines Vaters sehr kleine Hände hatte. Im Kopf blieb es trotzdem auch später immer der Griff der frühen Jahre. Selbst als er irgendwann ausblieb.

Liebevoll, schmerzhaft – irgendwie wusste ich, dass sie ihre schützende Gewalt lediglich zur Gefahrenabwehr einsetzte. Wahrscheinlich hörte sie in ihrem Kopf irgendwo ständig ein zu schnell fahrendes Auto oder ahnte in der Umgebung eine gefährliche Kreuzung, auf die man geradewegs zusteuerte und deren erst neulich bei einer routinemäßigen Wartungsarbeit sorgsam ausgetauschte Ampelschaltung just dann ausfallen würde, wenn man sie denn zu passieren gedachte. Sie hörte Sirenen, wo noch kein Unfall war, und sah Verletzte, wo es keine gab. Der Krankenwagen war in ihrem Kopf, aber das hatte Gründe, die hier nicht weiter ausgeführt werden können.

Betrachtung der Körperlichkeit

Ich kann rückblickend sagen, dass das Erkennen der eigenen Physis mich darin bestärkt hat, an die Existenz eines höheren oder göttlichen Wesens zu glauben. Denn wer oder was auch immer uns durch den Geburtskanal der eigenen Mutter auf die Welt katapultierte, – das konnte kein Zufall sein. Dafür war das Geschäft der Geburt einfach zu anstrengend und gefährlich.

Zudem würde sich das ganze Spektakel, begleitet von schmierigen Flüssigkeiten, seltsamen Gerüchen und vor allem großen Schmerzen, für einen wie mich kaum lohnen. Zumindest aus rein körperlicher Perspektive betrachtet und im Sinne einer effizienten Ästhetik. Und würden nicht wenigstens Neugeborene den Schmerz ihrer Reise offensichtlich gleich wieder vergessen, es gäbe wahrscheinlich nicht einen Menschen, der einen anderen noch einmal auf diesen beschwerlichen Weg bis ans Ende des Tunnels schicken würde. Abgesehen natürlich von einigen Sadisten, die es ja ohne Frage zu geben scheint und bei allem möglichen Spaß am Vorgang der Zeugung.