Ans Meer, fast sofort

In New Haven wird
man auf der Straße
öfter mal angesprochen
eine Frau ohne Zähne
fragt mich nach einer
Zigarette, I don’t smoke
ein Mann liegt auf dem
Gehweg und er schreit
in eine andere Welt, er
ist nicht der einzige
Junkie. Auf der Straße
begegnen sich die
Milieus, ich glaube
sie reden nie viel
miteinander, die
Haushälterin in
meiner Unterkunft
ist sehr sympathisch
ich weiß nicht, ob
man uns in Milieus
aufteilen kann
wir reden etwas
ich finde Menschen
großartig. Heute
versuche ich ans
Meer zu kommen
gehe über den Y
Campus, fühle mich
alt, arm, aber nicht
weiß, obwohl ich
heute dressed bin
es liegt etwas in
der Luft, überall
sind Pinboards
mit Aushängen
Fotos von Geiseln
der Hamas sind
überall, wenn ich
an Israel denke
hoffe ich, dass
wir Männer nicht
wieder ‚Helden‘
werden müssen
um uns im Welt
-krieg zu beweisen
es ist keine Antwort
nicht zurückzu
-schlagen. Die
doppelte Verneinung
tut in diesem Falle
weh, sie tötet und
traumatisiert. Videos
aus Gaza von einer
21-jährigen Studentin
werden im US TV ge
-zeigt. Die Frau spricht
so gut Englisch, dass
nichts untertitelt wird
sie sitzt auf gepackten
Koffern, 5 Flaschen
Wasser 1,5 L sind die
Notration, ich weiß
nicht mal, ob man dort
das Wasser in Litern
misst, aber ich reise
wohin ich will und
komme mir dekadent
vor, weil ich abends
Essen bestelle.

an diesem Tag gehe
ich über den Campus
bis in die Innenstadt
dort über das NH Green
eine Wiese auf der, wie
in der Uni, die Wege
diagonal angelegt sind
damit man sich trifft

Hatte ich das schon
berichtet?

ich treffe niemanden
aber ich bin auch kein
Student mehr und
danach rushed man
nur noch durch das
Leben. Vielleicht war
ich nie wirklich Student
oder ich bleibe einfach
so wie ich bin. Neugier
macht die Wissenschaft
und sonst… man muss
ja was tun, warum nicht
einfach was schreiben

also ans Meer, Meer, Meer
gar nicht so leicht, ich gehe
zur Union Station, dort nutze
ich die Toiletten und treffe
einen Professor, zumindest
bilde ich mir das ein, der Mann
sah klug aus, klüger, smarter
und erfolgreicher als ich, aber
wenn der Preis Für God, Für
Country, Für Yale
ist, dann
bin ich wirklich froh, dass
ich keine Parolen brauche
um meine Arbeit zu machen
wieder begegne ich mir als
bekennender Katholik darin
dass ich mit Hegels Gottes
-begriff gut zurechtkomme
die Führungsfigur in meinem
Geiste ist kein Diktator zu mir
eher ein Freund, eine Freundin
ein lebendiger Begleiter, der
oder die oder das Wesen lässt
mich die meiste Zeit in Ruhe
und einfach machen, an anderen
Tagen erwarte ich auch nicht zu
viel von der Orientierungsfigur
ich brauche keinen Vater im
Himmel, aber ein Gebet oder
ein Gedanke, der mich selbst
nicht zum Zentrum macht, ein
bisschen Solidarität und Liebe
das kann ja nicht schaden und
wenn man die großen Fragen
der Welt und des Seins nicht
beantworten kann, keinen Bock
auf Philosophie hat, dann hat
man.mensch immerhin einen
Parkplatz. Auf dem Parkplatz
des Hotel Marcel New Haven
will ich schon wieder umkehren
und frustriert darüber schreiben
dass man in NH ein Auto braucht
um an das Wasser zu kommen
was auch nicht ganz falsch ist
aber ich drehe mich glücklicher
-weise noch mal um und sehe
dann die Unterführung, das Wasser
ein Wunder! Nachdem ich über
die Church Street und gefühlt
200 Gleise gelaufen bin, dann
bis zum Highway der um die
8 Spuren in jede Richtung hat
und der in der Mitte durch einen
Zaun getrennt ist, nun endlich
finde ich die Lücke, gleich neben
einem IKEA der genauso blau
strahlt wie zu Hause in Köln

ich kenne keine Stadt, in der
man so viele Barrieren vor das
Wasser gebaut hat, frage mich
ob das gegen das Ankommen
oder gegen das Weglaufen
gedacht ist, vielleicht fährt
man auch lange am Wasser
damit man seine Träume nicht
einfach so aufgibt – Amerika

es riecht nach Salz und nach
Wasser, die Luft ist sofort eine
andere. Links sieht man ein
Frachtschiff und ein Terminal
Industrie ist überall, auch hier
nach rechts ist der Blick auf
das offene Wasser nahezu
endlos, es ist Ebbe, die Vögel
stehen im Sand. Ich gehe auf
den Pier, der an die Amistad
erinnert, das Sklavenschiff

[…] wurde durch einen erfolgreichen Aufstand afrikanischer Sklaven bekannt, der sich 1839 an Bord ereignete. Das Schiff wurde vor der Küste der Vereinigten Staaten von Amerika von der US-Marine aufgebracht, die die Afrikaner arrestierte. Die nachfolgenden Gerichtsverhandlungen – die sogenannten Amistad-Prozesse – fanden unter großem Interesse der zeitgenössischen US-amerikanischen und zum Teil der internationalen Medien statt und spielten eine Rolle für die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei in den USA. (Wikipedia 2023)

Das Schiff wurde in Baltimore
gebaut, dort fahre ich morgen
hin, es ist mein letzter Stop vor
der Konferenz. Ich frage mich
ob sich ein Zusammenhang
oder ein Vergleich zwischen
der Amistad und der Situation
am Mittelmeer und den Flucht
– und Migrationsbewegungen
heute herstellen lässt

Die Geschichte der Amistadt
wurde auch verfilmt. Sowieso
sehen für mich in Amerika alle
Straßen aus, wie die Filme sie
mir vorerzählt haben. Ich
komme aus den Klischees und
den Erzählungen nicht heraus
die Wörter, die man in mich ge
-legt hat, sie bleiben da sie ver
-dichten sich, manchmal lösen
sich einige auf und sie werden
bunt, aber das Korsett, das man(n)
mensch nach der Geburt angelegt
bekommt und dann später selbst
nachschnürt, es hält den Körper
zusammen. Was bin ich jenseits
von all dem oder wer bin ich dort
ich weiß es nicht. Die Amistad
schafft mich heute selbst ab, was
vielleicht ganz gut ist, man muss
auch loslassen können und ich
war sowieso nie gut darin, ein
Weißer zu sein, ich weiß auch
bis heute nicht, ob ich wirklich
dazugehöre, denn ich konnte
schon im Kindergarten schlecht
um die Förmchen kämpfen, für
mich war immer genug Platz
für alle in der Welt. Harmonie
wurde mir sozusagen in die
Wiege gelegt, ich weiß nicht
was daran schlecht ist. Vielleicht
ist das ein weißes Versprechen
ich denke an das Mädchen in
Gaza, an die Unterdrückten in
Afghanistan, an die Opfer und
an die Geiseln, die einfach nur
zur falschen Zeit am falschen
Ort gelebt haben. Es geht alles
so schnell vorbei, im Wasser
springen die Fischschwärme
nach oben, sie werden gejagt
manchmal sieht man den
silbernen Bauch der größeren
Jäger, die auch nur überleben
wollen. Der Reiher steht bedacht
an seiner Stelle und sticht ab und
an zu und fängt 2-3 Fische. Das
ist zu viel, einer fällt ihm aus dem
Maul und die anderen schluckt
er herunter. Danach schüttelt er
den Kopf, jedes Mal, er fängt
noch einige Fische mehr. Eine
Möwe fliegt hoch, lässt eine
Muschel fallen und prüft, ob
der Aufschlag auf dem Beton
ausgereicht hat, um die Schale
zu brechen. Sie wiederholt den
Vorgang mehrere Male, ich
wiederhole hier die Aussage
des guten Freundes, der Jäger
sagt immer: „Ja, dumm…
…sind sie nicht!“