Liebe in der Stadt
Die Stadt trägt weiß. Heute, entgegen der Regel, bleibt der Schnee liegen und verwandelt sich nicht sofort in den braunen Matsch, der Autofahrer panisch werden lässt. Ich habe kein Auto mehr, aber ich kenne die Panik von früher, sie ist ansteckend. Es ist wohl eine Erscheinung unserer Zeit, wenn alles schneller und einfach erreichbar ist, dann hat man große Angst vor dem Geschwindigkeitsverlust. Der Mensch macht sich Gedanken über sich selbst, über den Tod und das Leben – die Liebe. Das wird im Bedürfnisparadies vermieden. Aber bringen uns neue Dinge, neue Technik und Apps für jeden Scheiß auch weiter oder nur weiter weg von uns und von der Natur, die wir sind. Ach, das ist eine alte Frage, so philosophisch, der Herr heute…
*Hier stellt sich im Text eine kurze Melancholie ein, die ihren Ursprung im Jahr 2009 hat.*
Manchmal wäre es doch einfacher, ich wüsste gar nicht, also mein ganzes Leben lang, dass es Japan überhaupt gibt. Also Japan, das ist natürlich nur ein Beispiel. Aber jetzt, wo ich die ganze Welt kenne, da muss ich als aufgeklärter Mensch auch überall hinreisen. Menschen kennenlernen, andere Kulturen und das fremdländische Essen! Was ein Stress. Es reizt mich nicht, ich treffe andere Kultur in der Kneipe oder in Kalk. Weiter komme ich nicht. Da ist unser Deutschland den Deutschen, und es ist eine schöne ganze Welt für sich. Eine, die ich bis heute noch gar nicht ganz kenne. Und jedes Mal, wenn ich mit jemandem hier rede, öffnet sich ein neues Tor. Aber sobald ich die Festung der Vielfalt verlasse, schlägt’s mir der Hammer vor den Kopf. Die frische Luft schmeckt nach Plastik und ich huste kurz, der weiße Mann reagiert empfindlich auf Veränderung. Außerhalb von Kalk sprechen wir direkt darüber, welches Land das nächste ist. Fast wie bei Monopoly mit Cheats.
Gestern hatte ich ein Date. Mit einer Frau, obwohl das Geschlecht vielleicht gar nicht so wichtig ist. Also schon, aber auch nicht. Wir modernen Menschen werden über Apps zusammengeführt, verbinden uns mechanisch in einer Nacht. Dann läuft das Getriebe weiter. Das Miteinander wird eingeleitet mit der Anreise. Dann folgt ein kurzes Essen oder wir lassen uns was bringen. Man schaut eine Serie, beginnt sie und dann geht es los. Rein, raus, aus die Maus. Dann liegste da in fremder Welt und biste plötzlich ganz auf dich allein gestellt. Wirste ausrangiert, weggeworfen oder durch die App noch mal recycelt. Je nach Performance, Gesundheitszustand und natürlich gibt es ein Feedback-Formular mit gelben Sternen. Wir sind immer noch in Deutschland.
Da der Mensch keine solitäre Pflanze ist oder sonst zum Egomanen wird, bleibt einem kaum die Wahl. Man fügt sich der höheren Ordnung. Berufswunsch: Alleinherrscher mit Panzerfabrik. Whitepower. Der Rubel würde rollen dieser Tage, aber ich kann kein Russisch und meine Moral ist dann doch noch zu sehr intakt. Das wäre wiederum gut für die Truppe, aber es ist schlecht, weil ich noch in den Himmel kommen will. Bestenfalls später. Und wenn der Weihnachtsmann mir da dann die Bilanz vorliest, dann renne ich weinend zurück auf die Welt, wenn ich höre, was ich auf dem Gewissen habe. Das will ich vermeiden. Ich will ein guter Mensch sein und bleiben. Deshalb gilt für mich: Schlechtes Handeln vermeiden. Karma fällt mir auch sowieso oft sofort auf die Füße. Das tut dann direkt weh. Aua, Mama! Wiedergeburt als Arschloch setzt in der Regel sofort ein, fühlt sich nicht gut an. Kenne ich aus eigener Erfahrung. Niemand ist Mensch in Perfektion. Auch ich habe Fehler, aber Panzerfabrik wäre zu krass. Das kann ich nicht machen.
Mein deutsches Temperament zeigt sich gleich zu Beginn. Obwohl ich mir geschworen habe, dass ich heute die imperialen Narrative der westlichen Zivilisation vermeiden will, erzähle ich sofort wieder eine Geschichte, in der ich als Fabrikbesitzer auftrete. Es fällt mir schwer, der Realität ins Auge zu sehen und niemand erzählt über den Arbeiter in der Fabrik. Keiner will wirklich die Geschichte der Arbeiterin erzählen. Das Mütterchen kocht in Gedanken noch immer das leckerste Sonntagsgericht. Was das angeht, lebe auch ich noch immer im 19. Jahrhundert. Mein Kopf ist offensichtlich eine Echokammer ohne Therapieansatz. Ärztin beißt sich die Zähne aus. Priester wäre erstaunt, versteht aber nur Latein. Keine Medikation, Ping-Pong-Delay bis in alle Ewigkeit. Egal, ich erzähle und greife auf eine Fiktion zurück. Mein Leben ist eine Katastrophe. Ich bin Anfang 40, arm, habe nichts erreicht, fahre mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihr und Urlaub kann ich mir nicht leisten. Reisen ist für mich eine Illusion, aber ich habe neulich in Kolumbus’ Brief aus der Neuen Welt gelesen. Da war ich kurz weg. Dann wieder da. Dann habe ich mich gefragt, wieso die Welt neu ist, wenn man da Menschen trifft.
Die Frau ist beeindruckt von meiner weltgewandten Art, belesen ist der Mann, zwar arm, aber es bleibt eine philosophische Ader. Außerdem ist er auffallend groß, gute Statur, gute 1,80 groß, volles Haar und er könnte Menschen sicher gegen die Wilden verteidigen. Das wäre toll, und bei einem Einkauf könnte man echt was aus ihm machen. Das Ding ist, er hat halt nichts erreicht. Gar nichts. In Buchstaben: G-A-R-N-I-C-H-T-S. Ich lebe mein Leben, schreite voran in Sachen Emanzipation, ich verdiene gut als Projektmanagerin und dann muss ich ihn durchfüttern, seine Klamotten bezahlen und das hört nie mehr auf. Auf Feiern wird er mich blamieren, weil er einfach dieses Arbeitergen in sich trägt. Es wird deshalb auch so sein, dass er sich an mich heranwirft wie eine Klette. Und dann sucht er sich heimlich das nächste Glück. Ich lasse mich aber nicht mehr verarschen. Der wird so hinterhältig sein wie der Händler in Indonesien. Oder der in Peru. Und der in Namibia. Aber keine Sorge, ich kenne das. Ich kenne mich aus. Und für heute ist das gut so. Für heute ist er gut, ich kenne seine Bewertungen. Die waren mit 4,9 Sternen durchweg positiv. Das Ende kläre ich. Ich bin der Chef, ich kann jederzeit kündigen. Notfalls fristlos. Ich bin frei.
Als wir über das Reisen sprechen, da soll ich aufzählen, welche Länder ich schon bereist habe. Ich war bislang nur in Nordrhein-Westfalen und in Hamburg. Ins Ausland sollte ich damals mit der Schule, aber der Eigenanteil zum Schüleraustausch war zu hoch. Meine Mutter war alleinerziehend und konnte sich das nicht leisten. Mein Vater war ein Schläger. Der sah gut aus, der war verführerisch. Ich verstehe, warum man ihn liebt oder warum man das glauben will, dass man so jemanden liebt. Er hat so eine verfängliche Art und kann die Rolle des Beschützers gut ausfüllen. Zumindest in der Theorie. Er ist die Idealbesetzung für jeden Film. Bezahlt hat er dann später trotzdem nie. Das ist die Praxis. Ich mache meiner Mutter keinen Vorwurf. Ich verstehe sie. Nach Paris ging es für mich trotzdem nicht. Es war zu teuer, meine Mutter hat es so gesagt, wie es ist. Sie habe das Geld nicht, und ich habe sie dann im Futur II getröstet. Ich hätte sicher Heimweh bekommen.
Dann geht es nicht mehr anders. Ich muss die Frage beantworten. Also: Welche Länder hast du bereist? Ich antworte: Eythstraße, Lilienthalstraße, Loestraße, Steinmetzstraße, Feldstraße, Dieselstraße, Kasernenstraße… Sie fühlt sich sichtbar verarscht, aber sie lacht. Vermutlich hat sie für heute nichts Besseres gefunden. Das ist aus meiner Sicht offensichtlich. Sie bleibt, und ich sehe noch immer ganz gut aus, wenn ich die letzten zehn Jahre vergesse. Also streue ich gezielt noch meine lustigsten Begegnungen im Kiosk ein. Da habe ich eine Top5, die zieht immer, das geht in jeder Gesellschaft. Das findet sie witzig, sie ist dann doch noch beeindruckt. Dann erzählt sie mir ungefragt im Detail von ihren Trips: Costa Rica (mit Singlegruppe), Peru (mit Guide), Kolumbien (mit befreundetem Pärchen), Amerika (natürlich mehrfach und ganz), Kanada (kurz), Afrika (nur die sicheren Länder), Afrika+Safari mit einem Ex-Freund (wilde Geschichte), Asien (noch nicht ganz, Stichwort: Nordkorea), China (vor der Pandemie), Australien (nach dem Abitur), Gardasee (mit den Eltern). Inzwischen findet sie das Autofahren und besonders das Fliegen doof. Es ist alles zu viel für das Klima, man merke das jetzt. Die Wissenschaft…
Ich denke kurz an Waterworld mit Kevin Costner und freue mich darüber, wie schön und unbeschwert das Leben in den 90ern gewesen ist. Damals wäre ich gerne Anfang 40 und wie Kevin Costner gewesen. Ein Bodyguard für meine Frau, die beiden Kinder und in meinem Job auch für die Welt. Most Important Me. Ein Mann, seine Erzählung, sein Kampf für das Gute, gegen das Böse in der Welt. Die Rettung für alles. Für die Welt, die ganze. Das kriege ich nicht mehr hin mit meinem Leben und zum Vergleich mit Kevin Costner fehlt auch ein ganzes Stück – Geld, Aussehen, Ruhm. Da muss man ehrlich sein und die Kirche im Zelt lassen (Himmel). Es geht mit dem Gespräch dann unentwegt weiter. Weil ich mich anpassungsfähig zeige, viel zuhöre und bei kritischen Dingen nicht nachfrage, sondern zustimme, finden wir dann doch noch zusammen. Vielleicht hat sie Mitleid und ich habe es auch, darüber sprechen wir aber nicht. Wir fahren mit dem Taxi, sie zahlt. Ab da gibt sie mir fortlaufend Instruktionen, dann wirft sie mich weg, aber sie versucht dabei höflich zu bleiben. Sie schlafe lieber alleine und bitte mich deshalb darum, dass ich „jetzt gehe“. Sie wache außerdem ungern neben einem fremden Mann auf. Alle Männer, die sie kenne, seien am nächsten Tag Arschlöcher geworden. Ich stimme ihr zu. Es ist 4 Uhr in der Nacht, ich gehe zu Fuß und freue mich auf mein Bett. Das Taxi kann ich mir nicht leisten und die Bahnen fahren hier um diese Zeit nicht mehr. Ich gehe zu Fuß und bin froh, dass Köln nicht New York ist.
Auf dem Heimweg denke ich kurz wieder an Japan. Ganz rechts auf der Karte, da liegt die Walfangkolonie. Hinter den Unbekannten im Osten. Es wäre wahrscheinlich gut, wenn man gar nicht wüsste, was da ist. Einfach nur Menschen im kleinen Europa treffen. Hier mal ein Franzose, da eine Spanierin, dort ein Italiener oder eine Türkin. Die Frau ist eigentlich Kurdin, aber das Problem verstehen die Menschen im Viertel nicht, andere kennen es aus eigener Erfahrung wiederum viel zu gut. Es ist so schön anzusehen, dass alles durcheinander ist, aber irgendwie auch nicht. Die friedlichen Häuserdächer sind alle ganz weiß. Die Wege und Wiesen sind bedeckt. Meine Schuhe knirschen im Schnee auf den Bürgersteigen, die um diese Zeit nicht mehr geräumt sind. Es ist noch einmal ordentlich was dazu gekommen. Ungewöhnlich, aber der Winter ist wohl endlich da. Am Fluss gehe ich auf die Brücke, bleibe kurz darauf stehen und drehe mich um. Dann sehe ich meine Spuren und fühle mich wie ein kleines Kind, das den Blankspace gefunden hat. So muss sich Neil Armstrong gefühlt haben. Ich gehe über die Deutzer Freiheit, dann noch einmal durch ein paar kleine Gassen und an manchen Plätzen bleibe ich stehen, weil ich mich an etwas erinnere. Und dann stelle ich fest, dass ich der App heute doch nicht egal bin. Mein Handy vibriert. Ich drehe um und hoffe, dass wir uns in einem neuen Projekt vielleicht kurzfristig geliebt haben werden.