Zusammenfassung: Dieser Beitrag untersucht Heinz Strunks Roman Der goldene Handschuh auf Grundlage von Judith Butlers Ausführungen zur Excitable Speech. Neben der Darstellung von Gewalt durch Sprache wird die Sprache als Form der Gewalt in den Fokus gerückt. Die erste Ebene der Analyse bilden die wörtliche Rede und die interne Fokalisierung der Figur ›Fritz Honka‹. Auf der zweiten Ebene wird die intersubjektive Beziehungsstruktur als dialogische Wechselwirkung zwischen verschiedenen Figuren betrachtet. Abschließend wird das Erzählen selbst als vorgetragene Rede kritisch hinterfragt. Folgende These wird untersucht: Die asynchrone Sprache der Figuren bleibt auf der Textebene unvermittelt und verstärkt dadurch das beschriebene Prinzip des verletzenden Sprechens. Die Darstellung der Gewalt durch die Sprache auf der Ebene der Figuren wird durch den Erzähltext selbst als Sprache der Gewalt reproduziert. Ziel
des Beitrags ist es deshalb, die Erzählung kritisch zu erschließen, um dadurch eine grundsätzliche Sensibilisierung für die Reflexion der Zusammenhänge von Sprache und Gewalt zu erreichen.
Schlüsselwörter: Judith Butler, Hate speech, Sprachtheorie, Polyphonie, Erzähltheorie, Sprache, Körper, Gewalt
1. Einleitung
Der Klappentext auf der Rückseite des Romans Der goldene Handschuh von Heinz Strunk verrät uns, dass in der vorliegenden Geschichte „ein minderbemittelter Frauenmörder aus der Unterschicht“ (Strunk 2018: Umschlagrückseite) in den Fokus der Erzählung rückt. Der „Roman taucht tief ein in die dunkle Welt von Kiez, Tresen und Abbruchquartier“ (Strunk 2018: Umschlagrückseite) und er ist nach Jürgen Kaube „eine humane Zumutung. Jedenfalls dann, wenn zu bedeutender Literatur gehört, den Blick von nichts abzuwenden“ (Strunk 2018: Umschlagrückseite – und: Kaube 2016). Damit werden drei, die Narration konstituierende, Ebenen benannt: Erstens tritt ein Protagonist als Mörder aus seiner sozialen Schicht hervor und gesellschaftlich in Erscheinung.1 Zweitens bildet ein spezifisches Milieu den Ort der Handlung. Das alltägliche Leben ist situiert in einem Viertel des sozialen Abstiegs. Eine Kneipe im Kiez ist der Zufluchtsort für „Arm und Reich“ (Strunk 2018: Umschlagrückseite). Drittens erfolgt die Vermittlung der Geschichte durch eine erzählende Instanz, und sie wird durch den Blick der lesenden Instanz zum Metadiskurs der Wirklichkeitsreflexion. Alle drei Ebenen sind verbunden durch die Sprache der Figuren, der erzählenden Instanz sowie der erzählenden Rede, die an die Lesenden im Moment der Lektüre herantritt. Dort wird schließlich die im Ausdruck verwendete Sprache zur Ansprache und zum Gegenstand der intersubjektiven Wirklichkeitsvermittlung.
Selbstredend ist in einem Roman, der die Geschichte eines Mörders und seiner Opfer erzählt, mit Gewalt zu rechnen. Insbesondere wer die Hintergründe der hier erzählten Geschichte kennt, weiß, worauf er oder sie sich einlassen wird. Für alle anderen schaltet Strunk seiner Erzählung zunächst die zitierte Darstellung der Innenperspektive eines Täters vor (Strunk 2018: 5). Daran schließt, in berichtender Form, die dokumentarische Beschreibung des Fundes der Leichenteile von Elisabeth Gertraud Bräuer an (Strunk 2018: 7–8). Der Tod dieser Hauptbelastungszeugin im Fall des, nach Aussage von Bräuer, durch Schuldig getöteten Stern, lässt vermuten, dass Herr Schuldig einmal mehr seinem Namen zu entsprechen scheint: Schuldig hat Stern mit der Sessellehne erschlagen und nun – vermutlich – auch Bräuer, die einzige Augenzeugin der Tat. Eine Observation bleibt ohne verwertbares Ergebnis. Die Aussage der Zeugin Anneliese Sawatzki bestätigt zwar, dass sich der vermeintliche Täter ihr gegenüber „sehr brutal benahm“ (Strunk 2018: 11), aber juristisch ist er dafür, allein durch die mündliche Schilderung, nicht zu belangen. Auch ein gegenüber Anneliese Sawatzki gemachtes Geständnis im Fall Stern reicht, allein durch die Zeugenaussage, nicht als rechtlich verwertbarer Beweis aus. Und da man ihm das Tötungsdelikt nun, nach dem Tod der wichtigsten Zeugin, nicht (mehr) nachweisen kann, wird Winfried Schuldig aus „Mangel an Beweisen freigesprochen“ (Strunk 2018: 7–11, 11).
Dem*der Lesenden ist spätestens an dieser Stelle klar: Im vorliegenden Fall steht eine Gesellschaft im Fokus, in der zwischenmenschliche Beziehungen von Gewalt bestimmt sind. Die Menschen schaffen es nicht, durch Gesetze und eine gemeinschaftlich entwickelte Sprache, die herrschenden Verhältnisse zu verbessern und Gerechtigkeit zu erwirken. Dass ein Großteil der dann folgenden Romanhandlung in der Kneipe eines erfolgreichen Ex-Boxers spielt, scheint diesen Sachverhalt nur gekonnt zu konterkarieren. Die Kneipe „Zum goldenen Handschuh“ ist die klassenübergreifende Arena einer Gemeinschaft der Einzelkämpfer (und Einzelkämpferinnen!).2 Der goldene Handschuh ist das Symbol des stilisierten Wettstreits. Doch im Ernstfall sieht sich sogar der ehemalige Profi als Betreiber der Lokalität machtlos den unvorhersehbaren Wutausbrüchen und dem Rausch der Schläger ausgesetzt. Was hier passiert, bewegt sich an der Grenze geregelter Zivilisation und Kultur. Herrschende Zustände werden spontan überwunden. Die Gewalt eskaliert plötzlich und mündet nicht selten im Exzess. So auch, als eine Gruppe englischer Matrosen in die Kneipe kommt:
Es war alles ganz friedlich gewesen, bis eine Gruppe englischer Matrosen hereinplatzte, von denen zwei ohne Vorwarnung zuschlugen, aus Wut darüber, dass sie die ganze Nacht über die Reeperbahn geirrt waren und nichts zu ficken gekriegt hatten. […] Herbert konnte gegen die Übermacht nichts ausrichten, und Anus hatte sich sicherheitshalber ins Büro verpieselt. Die Schläger gerieten in eine Art Blutrausch und konnten von ihren Kameraden nur mit allergrößter Mühe gebändigt werden, sonst hätte es vielleicht noch Tote gegeben (Strunk 2018: 88).
Nicht nur dieser Gewaltausbruch steht im direkten Zusammenhang mit der Sexualität. An anderer Stelle wird die Gewalt durch eine Beleidigung ausgelöst. Auch sie konnotiert das Sexuelle. Das Wort „Fickfehler“ (Strunk 2018: 197) als Zuschreibung für einen Gast, der durch die erzählende Instanz zu den „Verschimmelten“ (Strunk 2018: 197) gezählt und als „ein fetter, alter Mann, Typ Albino ohne Augenbrauen und Haare“ (Strunk 2018: 197) beschrieben wird, ist zu viel. Es kommt zur Schlägerei und es stellt sich heraus: „Fiete beobachtet gern Schlägereien. Aus sicherer Entfernung“ (Strunk 2018: 197). Der Protagonist der Erzählung ist selbst Opfer und Täter zugleich3 und er weiß: „Gewalt ist wie ein Brand, […] du kannst ihn nicht bändigen, wenn er ausgebrochen ist“ (Strunk 2018: 197). Die eigene Erfahrung4 scheinbar bestätigend „kann [der Dicke] nicht aufhören, er kann einfach nicht, er will weitermachen, bis der Pullover tot ist“ (Hervorhebung im Original, Strunk 2018: 198). Die Gemengelage wird schließlich zum „neu gebildete[n] Gesamtorganismus“ (Strunk 2018: 199). Der „liegt in den letzten Zuckungen“ (Strunk 2018: 199), doch dann kommt die Polizei und die öffentliche Ordnung wird wiederhergestellt (Strunk 2018: 199). Es kommt nicht zum Äußersten. Die individuelle Grenzüberschreitung bleibt als intersubjektive Verhandlung und übergriffige Auseinandersetzung sozial reguliert.
Nach der Schlägerei macht Fiete sich seine ganz eigene Vorstellung vom weiteren Verlauf des gemeinschaftlichen Abends mit Herta, Inge und – ohne Hildegart:
Was aber nun mit dem angebrochenen Abend anfangen? Herta sitzt auf ihrem Platz und rührt sich nicht, Inge kramt in ihrer Tasche. Die lecken sich auf jeden Fall noch die Fotzen, denkt Fiete. […] Das wird noch geil heute (Strunk 2018: 199).
Während Hildegart, nach ihrem Sturz auf dem Damenklo, alleingelassen das Kapitel „[d]ies ist kein Albtraum, dies ist ein Todeskampf“ (Strunk 2018: 200) schreibt, verlassen die anderen beiden Frauen mit Fiete die Kneipe. Niemand scheint die ehemals Vierte im Bunde zu vermissen. Auf dem Weg „murmelt“ (Strunk 2018: 200) Fiete dann im Selbstgespräch phrasenhaft sich selbst in seinem Plan ermutigend „vor sich hin“ (Hervorhebung C.F., Strunk 2018: 200) – „[w]as sich ein Honka vornimmt, das schafft er auch“ (Strunk 2018: 200) – aber, er schafft es eben nicht. Der vollzogene Ortswechsel ist kein Zufall. Die Gruppe verlässt den öffentlichen Raum und somit die Möglichkeit der sozialen Kontrolle und Regulierung. In Honkas Wohnung wird ein geschlossener Bereich der privaten Freiheit betreten. Ab jetzt gelten andere Regeln und es geht um ›Häusliche Gewalt‹5 – solche, die öffentlich in der Regel nicht sichtbar in Erscheinung tritt und die dort nicht hörbar zur Sprache kommt. Die Ambivalenz dieser Grenzüberschreitung als Übergang der sozialen Räume wird bereits zu Beginn deutlich markiert und vom Beobachter der Observation notiert. Anneliese Sawatzki flüchtet vor Herrn Schuldig in die Kneipe und sucht dort Schutz (Strunk 2018: 9). Schutz suchen auch die Frauen im „Handschuh“. Dann gehen sie, unbemerkt vom Rest der Welt, mit Fiete mit. In seiner Wohnung fällt der Gestank auf (Strunk 2018: 201). Dennoch bleiben sie. Ihre Lage ist offensichtlich aussichtslos. Jetzt spricht Fiete aus, was vorher nur als Gedanke formuliert war (Strunk 2018: 201). Aber die beiden Frauen halten nichts von seinem Vorschlag. Sie haben eine andere oder vielleicht auch gar keine konkrete Vorstellung vom weiteren Verlauf des Abends. Es kommt zur physischen Gewalt (Strunk 2018: 201). Inge bittet: „Hör auf, du schlägst mich noch kaputt“ (Strunk 2018: 201), sie widerspricht ihrem Gegenüber, indem sie ihren eigenen Willen verteidigt und sie flieht schließlich halbnackt aus der Wohnung (Strunk 2018: 202). Herta hilft nicht, sondern schläft ein (Strunk 2018: 202) und verschwindet dann aus der Geschichte. Niemand erkundigt sich in der Folge nach ihr. Auch Inge nicht.
Als Fiete Anna trifft, ist Herta Vergangenheit.6“ (Strunk 2018: 215).] Anna ist Fiete schnell suspekt, aber seit sie im „Handschuh“ auf seinem Platz saß und sie am Ende des Abends zu ihm gingen, wird er sie nicht mehr los (Strunk 2018: 214). Ihr „Anblick ist kaum auszuhalten“ (Strunk 2018: 214). Er will sie hinauswerfen, schafft es aber nicht. In ihrem Blick „glaubt [er] unter der heißen Flamme des mütterlichen Schneidbrenners zu einem Haufen Asche zu verbrennen“ (Strunk 2018: 219). Das Wort „Schmiersuff“ (Strunk 2018: 215) entspricht nicht ihrem Trinkverhalten – sie verträgt mehr als Fiete –, daher müsste man ein „viel mächtigeres Wort erfinden“ (Strunk 2018: 215). Physisch wie verbal scheitert er an ihr und nicht nur das: Sie erfindet sogar neue Worte als Beleidigung gegen ihn. Als sie körperlich am Ende ist, wird Fiete gewalttätig gegen sie. Sie wehrt sich und „flüstert: «Aua, aua, bitte loslassen.»“ (Strunk 2018: 219). Doch das bringt nichts. Die Figuren im goldenen Handschuh sprechen nicht miteinander und hören einander nicht zu. Sie können nicht „auf-hören“ (Hervorhebung C.F., Strunk 2018: 198, vgl. s.o.), weil die ausgeübte Gewalt den sozialen Modus des Sprechens und Zuhörens außer Kraft setzt. Figuren stehen deshalb permanent isoliert voneinander im Raum. Sie werden erst selbst zum Objekt der übergriffigen Überredung anderer, dann zum Ort asozialer Einzelinteressen. Auch der Fall Anna ist ein körperliches Scheitern an der gemeinsamen Sprache. Es kommt zum qualvollen Spiel des Mörders, dessen „Drang zu würgen übermächtig wird“ (Strunk 2018: 219) und der, nach Demütigung und Machtdemonstration, nicht mehr vom entwürdigten Menschen und gebrochenen Gegenüber ablässt. Fiete finalisiert den Tötungsakt über alle Grenzen der Humanität hinweg und radikalisiert damit seine isolierte Position in der Welt. Die physische Gewalt gegen Anna richtet sich direkt gegen den organischen Ursprung ihrer Sprache.
Das Aas und die Scheiße in seinem Bett, die Worte, die wie giftiger Dampf aus ihrer Kehle gestiegen sind. Er läuft in die Küche und holt ein Messer. Damit schneidet er ihren Hals auf, weil da alles drin ist, was zur Sprache gehört (Strunk 2018: 219).
Fiete zerstört die Frau und ihre Stimmbänder (Strunk 2018: 219). Sein Hass richtet sich nicht allein gegen ihren Körper7, sondern gegen die von ihm wahrgenommene und an ihn herangetragene Sprache. Dass seine eigene Sprache dabei einmal mehr offensichtlich den weltlosen Status der intersubjektiven Unvermittelbarkeit erreicht und seine, durch fehlende Sprache verlorene Existenz innerhalb seiner Gesellschaft nur bestätigt, bleibt unausgesprochener Wesenskern der vorgetragenen Täterhandlung.
2. Die Gewalt der Sprache als Sprache der Gewalt
Es ist bereits deutlich geworden, dass hier vereinfachend zwei Formen der Gewalt begrifflich gegenübergestellt werden. Erstens wird die konkrete physische Gewalt auf Textebene sprachlich beschrieben und dadurch artikuliert. Dass die sprachliche Darstellung eine Reproduktion oder Wiedererfahrung von Gewalt bedeuten kann, zeigt sich im Text unter anderem darin, dass die Vernehmung mit der Zeugin Anneliese Sawatzki abgebrochen werden muss (Strunk 2018: 11). Zweitens tritt ein Aspekt hervor, der nun im Rückgriff auf Judith Butler (vgl. Butler 2018) in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden soll. Die Sprache selbst wird dazu fokussiert und als Handlungsmacht begriffen. Losgelöst von der Darstellung der Gewalt durch Sprache, wird die Sprache als eigenständige Gewalt beschrieben. Es handelt sich dabei zum Beispiel um solche Prozesse der Rede und Anrede oder um solche Formen des Ausdrucks, die als direkter Akt der Gewaltausübung zu begreifen sind und die als solche eine bis ins Physische hineinreichende Wirkung erzielen können. Als Ausgang der Beschreibung im hier vorgetragenen Fall dienen im Wesentlichen die wörtliche Rede als Stimmen der Figuren sowie die erzählende Rede als Sprache der erzählenden Instanz. Beide Ebenen werden durch die Lektüre zur dialogischen Anrede. Dass Sprache sich als Einfluss und Ausgang im sich daraus entwickelnden, eigenen Ausdruck nicht selbst zu überwinden schafft (zur „Rhetorizität“ der Sprache vgl. Butler 2018: 19) – ein ständiges Dilemma, muss hier weitestgehend ausgeblendet werden.
In ihrer Diskussion der performativen Grundlagen von Excitable Speech hat Butler Lektüren zusammengeführt und Fälle des verletzenden Sprechens kritisch ausdifferenziert (vgl. Butler 2018). Im Rückgriff auf die Sprechakttheorie von John L. Austin unterscheidet sie zwischen einem (A) illokutionären und einem (B) perlokutionären Sprechakt. Sie bilden unterschiedliche Ausgangspunkte bei der Beschreibung des sprechenden Handelns:
Der illokutionäre Sprechakt ist […] selbst die Tat, die er hervorbringt, während der perlokutionäre Sprechakt lediglich zu bestimmten Effekten bzw. Wirkungen führt, die nicht mit dem Sprechakt selbst zusammenfallen (Butler 2018: 11).
Ausgehend von der Unterscheidung zeigt Butler, was verletzendes Sprechen ist und warum diesem die Eigenschaft des illokutionären Sprechaktes zukommt:
Durch das Sprechen verletzt zu werden bedeutet, daß man Kontext verliert, also buchstäblich nicht weiß, wo man ist. […] [D]er Adressat wird seiner Selbstkontrolle beraubt. Im Augenblick der verletzenden Anrede wird gerade die Fähigkeit gefährdet, die Situation des Sprechaktes abzugrenzen. Auf verletzende Weise angesprochen zu werden bedeutet nicht nur, einer unbekannten Zukunft ausgesetzt zu sein, sondern weder die Zeit noch den Ort der Verletzung selbst zu kennen und diese Desorientierung über die eigene Situation als Effekt dieses Sprechens zu erleiden. In diesem vernichtenden Augenblick wird gerade die Unbeständigkeit des eigenen »Ortes« innerhalb der Gemeinschaft der Sprecher sichtbar. Anders gesagt: Man kann durch dieses Sprechen »auf seinen Platz verwiesen« werden, der aber möglicherweise gar keiner ist. Man spricht von einem Überleben in der Sprache (Butler 2018: 13).
Das „Überleben in der Sprache“ (Butler 2018: 13) ist ein soziales Phänomen und entsprechend gebunden an die intersubjektive Vermittlung durch Sprache. Mit Rückgriff auf unter anderem Felman (Butler 2018: 24), Althusser (Butler 2018: 46) und Lacan (Butler 2018: 52) zeigt Butler, wie die Anrede einerseits Autonomie suggeriert, sich andererseits aber der gesellschaftlichen Zuordnung und der sozialen Positionierung unterordnet (Butler 2018: 49 u. 52). Spezifische Form der individuellen Beziehung durch Sprache ist die wechselseitige Bezeichnung der Subjekte in Form differenter Eigennamen. Diese sind nie das, was sie versprechen zu sein: einzigartige Bezeichnungen (Butler 2018: 52). Der Name eröffnet einerseits die „Möglichkeit der gesellschaftlichen Existenz“ (Butler 2018: 10 u. 15), andererseits wird man durch ihn „zugleich herabgesetzt und erniedrigt“ (Butler 2018: 10), weswegen er ursprünglich „verletzend“ (Butler 2018: 10) ist. Einen Namen zu erhalten, bedeutet also zugehörig zu sein. Gleichzeitig schließt der Vorgang das radikal-originäre Subjekt als echtes Individuum vom Diskurs aber aus. Deshalb bezeichnet der Name exakt die Schnittstelle der subjektiven Wahrnehmung der Realexistenz von menschlichem Leben im Allgemeinen und die abhängige Möglichkeit der intentionalen Abweichung durch das eigene Leben als sich davon ständig abgrenzendes Anderes. Kurz gesagt: Der Name ordnet in eine soziale Struktur ein, aber er ermöglicht es eben auch, sich dieser dann zu widersetzen.
Als ritualisierte Konvention und Praxis der Benennung des Menschen nach seiner Geburt ist die sprachliche Positionierung des Körpers durch die Bezeichnung einerseits von sozial integrierender Funktion, andererseits handelt es sich um einen übergriffigen Akt der Gewaltausübung insofern, als die Bezeichnung unabhängig vom betroffenen Wesen und über den Willen des Subjekts hinweg getroffen wird. Das Individuelle wird durch die Sprache ursprünglich verletzt und ist von nun an „geprägt“ (Butler 2018: 50) durch die Sprache und von der „Erbschaft ihres Gebrauchs“ (Butler 2018: 52) betroffen.
Somit ist die »Existenz« des Subjekts in eine Sprache »verwickelt«, die dem Subjekt vorausgeht und es übersteigt, […] Autonomie im Sprechen ist, soweit sie existiert, durch eine radikale und ursprüngliche Abhängigkeit von der Sprache bedingt, deren Geschichtlichkeit die Geschichte des sprechenden Subjekts in alle Richtungen übersteigt. Und diese überschüssige Geschichtlichkeit und Struktur ermöglicht ebenso das sprachliche Überleben des Subjekts wie potentiell seinen sprachlichen Tod.8 (Butler 2018: 51).
Weil die Sprache das einzelne Subjekt räumlich wie zeithistorisch übersteigt, bleibt die existentielle Beziehung des Sprechens ein einseitig dominiertes Abhängigkeitsverhältnis. Das einzelne Subjekt existiert erst durch die Teilhabe an der Sprache als Körper in der Gesellschaft. Mit Rückgriff auf Althusser präzisiert Butler deshalb:
Sprache erhält den Körper nicht, indem sie ihn im wörtlichen Sinn ins Dasein bringt oder ernährt. Vielmehr wird eine bestimmte gesellschaftliche Existenz des Körpers erst dadurch möglich, daß er sprachlich angerufen wird (Butler 2018: 15).
Wenn die Sprache aber über Tod und Leben des Subjekts in der Welt entscheidet und individuelle Existenz erst in Abhängigkeit ermöglicht, dann betrifft dies auch den körperlichen Ursprung eines jeden sprachlichen Ausdrucks. Körper und Sprache sind deshalb untrennbar miteinander verbunden. Der Körper findet seinen Platz nur über die Sprache, die ihn zugleich in seiner Singularität übersteigt. Selbstkontrolle und Existenz in der Sprache bilden ein ständiges Widerspiel aus suggerierter Autonomie und anerkannter Heteronomie. Jede sprachliche Interaktion ist ein Akt der Gewalt. Die sprechenden Subjekte müssen sich in der gegenseitigen Selbst- und Fremdvermittlung einem überindividuellen Sprachraum unterwerfen. Damit wird die Erfahrung der ursprünglichen Verletzung der eigenen Bezeichnung wieder erfahren. Weil die Konstitution des Selbst aber nur so und über die intersubjektive Resonanz entwickelt werden kann, treten Sprache und Körper in der Konfrontation mit dem Anderen zugleich in einen Wettstreit gegen sich selbst. Wer in diesem Prozess die Macht über die Deutungshoheit erlangt, erreicht nicht nur die Kontrolle über sich und die eigene Sprache, sondern man dominiert dadurch auch die Bezeichnung des situativen Unterschieds. Als Mechanismus der „gewaltsamen Rhetorik“ (Butler 2018: 26–27) überschreitet die Sprache damit im Sprechen die singuläre Position des Individuums auch körperlich:
Der Sprecher spricht nicht nur, sondern wendet den eigenen Körper an den anderen und enthüllt damit, daß der Körper des anderen durch die Anrede verletzbar ist. Als »Instrument« einer gewaltsamen Rhetorik übersteigt der Körper des Sprechers die ausgesprochenen Worte und enthüllt den angesprochenen Körper, insofern dieser nicht mehr unter der eigenen Kontrolle steht (und niemals stand) (Butler 2018: 26–27).
Die Sprache bestätigt den Körper nicht nur im Raum an spezifischer Position und als Bestandteil einer sozialen Gemeinschaft, sondern sie erhält den Körper als Ursprung der Sprache und konstituiert sich dadurch nicht zuletzt selbst. Anders gesprochen: Jedes Subjekt ist in der eigenen Existenz abhängig von der Gesamtheit der Sprache. Zugleich ist die Sprache selbst gebunden an die Gesamtheit der Sprechenden. Sprache als komplexer Körper und übergreifende Sozietät existiert also nur durch die Summe der sprechenden Körper. Innerhalb der Selbstbehauptung der Sprache bewegt sich jedes Subjekt nur bedingt kontrolliert, frei und selbstbestimmt. Selbst- und Fremdkonstitution bleiben intersubjektiv abhängige Parameter des Sozialen. Jede Selbstbehauptung ist zugleich immer auch eine Selbstbehauptung der Sprache gegen sich selbst. Die Erfahrung von Momenten singulärer Subjektivität als autonome Individualität ist auf die ständige Kennzeichnung von intersubjektiven Differenzen angewiesen. Weil die Sprache gleichzeitig auf die Erschließung des Möglichen angewiesen ist, um als Ausdruck der Pluralität der Körper und der Welt insgesamt handlungsfähig zu bleiben, ist die ständige Grenzüberschreitung im Sprechen und durch das Bezeichen unüberwindbar. Deshalb ist die Gewalt der Sprache substanziell notwendig und unvermeidbar. Auf Grundlage von Toni Morrison führt Butler aus, wodurch die Gewalt der Sprache bestimmt ist:
Die Gewalt der Sprache liegt in ihrem Bemühen, das Unsagbare einzufangen und damit zu zerstören bzw. das zu fassen was der Sprache gerade entzogen bleiben muß, wenn sie als lebendige Sache wirksam sein soll (Butler 2018: 21).
Die Gewalt der Sprache als expansive Erschließung der Welt als subjektive Wirklichkeit ist reale Notwendigkeit und Grundbedingung der Orientierung durch Sprache in der Welt. Sie bezeichnet die originäre Verletzung ursprünglicher Subjektivität und radikaler Autonomie als Erfahrung der Individualität. Die Sprache konstituiert das Subjekt und positioniert den Körper in der Welt. Weil die Sprache sich durch das Subjekt konstituiert und zugleich dieses übersteigen muss, um sich die Möglichkeit der Differenz als Handlungsspielraum zu bewahren, lässt sich der Mechanismus des verletzenden Sprechens nicht final überwinden. Nur durch die Bezeichnung können überhaupt Kontraststufen als Markierung von Gleichheit und Differenz innerhalb einer Gesellschaft gebildet werden. Wenn das verletzende Sprechen dann aber so etwas wie das kleinste gemeinsame und unvermeidbare Übel in der sozialen Organisation humaner Gesellschaft bezeichnet, wie kann man daraus eine progressive Herausforderung als Perspektive des Fortschritts entwickeln?
Butlers Ausführung zielen auf eine Sensibilisierung der Subjektivität, gleichermaßen für die Bewusstwerdung der eigenen Betroffenheit sowie der eigenen Machtposition, in der Verwendung von Sprache. Weil die Sprache den eigenen Körper nur über die permanente Erschließung von Möglichkeiten der Differenz behaupten kann, ist sie auf eine ständige Grenzüberschreitung angewiesen. Deshalb ist die ursprüngliche Verletzung des Subjekts in seiner Bezeichnung letztlich eine notwendige Verletzung gegen sich selbst. Diese Paradoxie ist nicht aufzuheben. Deshalb kann es auch nicht darum gehen, die Sprache gegen sich selbst ins Feld zu führen. Wesentlicher ist es, den Mechanismus der Gewalt zu kennzeichnen und die sprechenden Subjekte als sprechende Körper für die eigene Rolle zu sensibilisieren.
3. Drei Beispiele
Wir haben bislang gesehen, dass es zwei Ebenen der Gewaltdarstellung in Heinz Strunks Roman Der goldene Handschuh gibt. Neben die Ebene (a) der physischen Gewalt und ihrer Versprachlichung tritt die Ebene (b) der sprachlichen Gewalt als Form des illokutionären Handelns. Sprache kann die Form physischer Gewalt artikulieren und sie außerdem selbst annehmen. Sie kann sie zugleich aber nicht endgültig überwinden. Da jede Sprache im Handeln an den Körper gebunden bleibt, handelt es sich zudem um eine idealtypische Trennung. Mit Rückgriff auf Butler wollen wir nun den theoretischen Aspekt durch drei Beispiele auf Textebene veranschaulichen. Dazu orientieren wir uns an den einführend aufgezeigten Ebenen der Narration: Auf Ebene des Protagonisten und einzelnen Subjekts tritt (1) die einsame Figur ›Fritz Honka‹9 in den Fokus der Beschreibung. Zweitens (2) werden auf intersubjektiver Ebene solidarische Selbstgespräche, scheiternde Dialoge und Akte der Überredung diskutiert. Schließlich sollen (3) Aspekte einer Sprache der Gewalt auf Ebene des Erzählens reflektiert und kritisch erläutert werden.
Die einsame Figur ›Fritz Honka‹ und ihr zweitklassiger Spitzname „Fiete“
Die Figur des Protagonisten ›Fritz Honka‹ wird aus der Perspektive des externen Beobachters und Kneipengastes in den Text eingeführt. Da sitzt eine Person am Tresen, die redet vor sich hin, während der Nebenmann auf der Grenze von Leben und Tod schlingert. Gehör finden seine Worte bei ihm nicht. Er artikuliert sich, aber steht mit der Sprache allein im Raum.10 Der Nebenmann, hier genannt „Leiche“ (Strunk 2018: 15), ist kein wirklicher Gesprächspartner für den „schiefe[n] Mann mit dem eingedrückten Gesicht“ (Strunk 2018: 15). Der Zustand des regungslosen Zuhörers am Rande der physischen Existenz bestätigt geradezu das Versiegen der Sprache im resonanzfreien Raum.11 Einige Zeit später kommt „Soldaten-Norbert“ (Strunk 2018: 19). Der Mann mit dem „Spitznamen erster Klasse“ (Strunk 2018: 18f.) zwingt den Gast, den sie hier neuerdings „Fiete“ (Strunk 2018: 18) nennen – immerhin ein „Spitzname […] zweiter Klasse“ (Strunk 2018: 18), in einen seiner „berüchtigten Endlos-Monologe […]“ (Strunk 2018: 19). Der ehemalige SS-Mann, der jetzt bei der Müllabfuhr arbeitet und seinen ganz eigenen sozialen Abstieg aktiv und offen bemitleidet (Strunk 2018: 19), dominiert die Unterhaltung. Er unterstützt seine sprachliche Präsenz durch aktiv ausgesprochene Beleidigungen.12 Physisch betrachtet ist er kein guter Gesprächspartner: Er trägt ein Hörgerät (Strunk 2018: 20). Fiete ist „richtig stolz“ (Strunk 2018: 18) auf seinen neuen Namen, er fügt sich situativ in die Rolle des von Norbert beredeten Monolog-Partners. Das einseitige Zuhören scheint sich für ihn zu lohnen. Als er mit seiner neuen Bekanntschaft Gerda13 nach einiger Zeit wieder in den „Handschuh” kommt, wird er so auffallend persönlich begrüßt, dass er, die neue Anerkennung registrierend, vorsichtig feststellend denkt: „[I]ch bin was Besonderes und weiß es nur noch nicht“ (Strunk 2018: 90). Im Moment der einsetzenden, sozialen Integration fühlt er sich als Subjekt wahrgenommen und nimmt sich deshalb ernst – notfalls auch ohne selbst aktiv zu sprechen.
Seine soziale Stellung hängt für ihn wesentlich von zwei Faktoren ab: Erstens braucht er einen Beruf. Zweitens braucht er eine Frau. Um Letzteres zu klären, geht er in die Kneipe. Denn „[i]m «Handschuh» kann man gut Frauen kennenlernen“ (Strunk 2018: 25). Das klappt bei Fiete nicht mehr so einfach, seit er auf Gisela getroffen ist. Er sprach sie an, sagte etwas „Unflätiges“ (Strunk 2018: 29) und entschuldigte sich später dafür bei der Frau von der Heilsarmee. Als Konsequenz aus dem Vorfall kommt sie seitdem nur noch in Uniform in den „Handschuh” (Strunk 2018: 29). Er wiederum spricht Frauen seitdem nur noch aus sicherer Entfernung und durch einen Mittler an, das ist seine „Taktik“ (Strunk 2018: 26). Weil er zum initialen Ansprechen nicht fähig ist, aber seine Einsamkeit14 zu überwinden sucht, schickt er Arno vor und bietet ein Getränk auf seine Kosten an (Strunk 2018: 26). Damit verlagert er den Anfang des Sprechens auf eine andere Person. Die Frauen müssen sich bei ihm bedanken und den ersten – sprachlichen – Schritt auf ihn machen. So auch bei Gerda: Sie kommt, stellt sich vor und bedankt sich. Der Dialog zwischen ihnen bleibt ein kurzer Austausch (Strunk 2018: 26f.). Schnell ordnet Fiete Gerda seiner eigenen Kategorie zu: „Säberalma“ (Strunk 2018: 27). Die Beiden gehen zu ihm, „[a]uf dem Weg sprechen sie kein Wort miteinander“ (Strunk 2018: 31). Später dann hat Fiete den Namen der von ihm so bezeichneten „Alma […] schon wieder vergessen“ (Strunk 2018: 30). Gerda bleibt, Fiete „will sie versklaven“ (Strunk 2018: 42). Sie wird in der Folge einsilbig und nennt ihn, scheinbar von jeglichem eigenen Willen befreit, „Chef“ (Strunk 2018: 48). Sie tut dies aber nur, weil sie festgestellt hat: „Er hört das gerne […] und sie nutzt das jetzt aus“ (Strunk 2018: 48). Das sagt sie nicht explizit. Das ist sozusagen ihre Taktik. Sie will ja bleiben. Wenig später wird sie deshalb schriftlich erklären, ihre Tochter, die eigene Meinung und ihren Willen an ihren neuen Herren abzutreten (Strunk 2018: 87). Sie unterschreibt, weil sie nichts zu verlieren hat.
Dass ›Fritz Honka‹ ein Problem in der wechselseitigen Verhandlung eigener mit fremder Sprache hat, wird mehrfach im Textverlauf deutlich. Als er seine neue Arbeit aufnimmt, „hat [er] sich […] Sätze zurechtgelegt“ (Strunk 2018: 111). Während der Hafenrundfahrt versucht er sich „Schnacks und Witze einzuprägen“ (Strunk 2018: 131), weil sie sein Bruder Siggi „[v]ielleicht […] noch nicht kennt“ (Strunk 2018: 131). Und als er an seinem freien Tag völlig verkatert den Zoo besucht, tritt sein sprachliches Vermittlungsdefizit als Unvermögen an der eigenen Sprache ganz offensichtlich zutage:
Fiete möchte etwas sagen, etwas Schlichtendes oder Allgemeines zum Zoo, zum Wetter, irgendwas, ein kurzes Gespräch, damit sich die Situation entspannt. Aber er ist viel zu aufgeregt, er lispelt und spuckt, und dann noch dieser grässliche Dialekt, die Frau versteht kein Wort. Ihr Gesicht verkrampft sich zu einem Ausdruck unwillkürlicher Abneigung. Fiete schüttelt den Kopf, soll heißen, Entschuldigung, ist nicht so gemeint, ist alles nicht so schlimm, ist alles nicht so, wie es aussieht. Durch die Bewegung seines Kopfes schneit es reichlich Schuppen auf sein schwarzes Oberhemd. Ihm tritt der Schweiß aus allen Poren. Die Frau dreht den Hals sehr weit zur Seite und bleckt das Gebiss wie ein krankes Pferd. Warum macht die das, was soll das? Das ist ja kein Tiergarten, dies ist ein Horrorgarten. Wäre er bloß daheim geblieben (Strunk 2018: 153).
Fiete begegnet zunächst Jochen, dem Kind der Frau. Der Junge kommt auf ihn zu (Strunk 2018: 153). Die Mutter zieht das Kind zurück, sodass es Schmerzen hat. Fiete registriert das Sprechen des Kindes: „Aua. Du tust mir weh […]“ (Strunk 2018: 153). Er möchte eingreifen. Es kommt zur kurzen Kommunikation mit der Mutter, doch Fiete scheitert an der eigenen Nervosität. Er findet nicht zur Sprache. Sein Ausdruck reduziert sich auf das vorsprachliche Denken und die eigene Körpersprache. Er verbleibt im dialogischen Selbstgespräch und schämt sich für seine Erscheinung und seinen Dialekt. Im Scheitern an der sprachlichen Vermittlung ist die Figur ›Fritz Honka‹ irritiert und verunsichert zugleich – vielleicht auch mit dem konfrontiert, was aus der Perspektive ihres Gegenübers als Ekel gegen sich selbst empfunden wird: Schuppen, Schweiß – die Frau reagiert auf ihn. Er wiederum projiziert sein Defizit der sozialen Integration und der fehlenden Sprache in eine Vorstellung der abnormalen Frau15 und flüchtet sich in die unvermittelte, eigene Perspektive des inneren Dialogs. Damit verhindert er die aktiv ermittelte Bestimmung der eigenen wie der anderen Position als Person und sprechender Körper im öffentlichen Raum.
In sehr ähnlicher Weise scheitert er in anderem Kontext im Sprechen mit seiner Kollegin Frau Denningsen, alias „Helga“ (Strunk 2018: 147). Nachdem sich eine gemeinsame Beziehung zwischen ihr, ihrem Ehemann Erich und dem Kollegen entwickelt hat – das Paar nennt „Fritz“ (Strunk 2018: 155) bei seinem Vornamen und denkt sogar an seinen Geburtstag16 – steigert er sich im weiteren Verlauf der Beziehung in die selbstvermittelte Vorstellung des dominierenden Subjekts.17 Sein Kontrahent, Helgas Ehemann, verliert seine Arbeit (Strunk 2018: 156). Helga sucht das Gespräch beim vertrauten Kollegen (Strunk 2018: 157). Er hört zu, dann lenkt sie das Thema auf ihn und er stellt fest: „Es ist schon sehr lange her, dass ihn jemand etwas Persönliches gefragt hat. Normalerweise muss er reden, um zu Wort zu kommen“ (Hervorhebung im Original, Strunk 2018: 158). Er erzählt von seiner Zeit bei Bauer Frerk (Strunk 2018: 158–161). Die Erzählung seiner Gewalterfahrung setzt ihm körperlich zu. Wieder wirkt Sprache hier als wiedererlebte Gewalt. Er weint, „[s]anft und verständnisvoll streicht im Helga über den Rücken“ (Strunk 2018: 161). Es kommt zur Überschreitung der körperlichen Distanz. Er schlussfolgert, er müsse endlich den entscheidenden Schritt in der Beziehung machen, seine Kollegin wolle dasselbe wie er und er „wird fast wahnsinnig bei dem Gedanken, dass er eine Gelegenheit hat verstreichen lassen“ (Strunk 2018: 161). Überzeugt von der eigenen Perspektive entlädt sich wenig später die sprachliche und körperliche Gewalt in der Figur ›Fritz Honka‹ gegen die Kollegin Helga Denningsen:
«Ich liebe dich, jetzt will ich dich ficken.» […] Helga starrt ihn sprachlos an. Er rupft und zerrt an ihrer Bluse, dass sämtliche Knöpfe wegplatzen und der Büstenhalter gleich mit kaputt ist. Ihre Brüste sind große warme Fladen Dung, die auseinanderfallen. So sehen die also aus. […] Helga stößt kurze Angst- und Schmerzensschreie aus, dann schlägt sie. Sie schlägt nach Fiete, bis der von ihr ablässt. Dann reißt sie sich los und stürzt davon (Strunk 2018: 165).
Wieder scheitern Sprache und Vermittlung. Die Aussage steht unkommentiert und unbeantwortet im Raum. Das angesprochene Subjekt ist „sprachlos“ (Strunk 2018: 165). Diese Position wird ignoriert und nicht als mögliche Resonanz, Gegenreaktion oder gar als Widerspruch zugelassen. Nicht einmal „Angst- und Schmerzensschreie“ (Strunk 2018: 165) treffen beim Gegenüber auf Gehör. In der zwischenmenschlichen Interaktion bleibt nur die körperliche Gegenwehr als letzter Ausweg aus der einseitigen Gewalterfahrung. Offensichtlich kann die Figur ›Fritz Honka‹ genau dieses Scheitern an der Vermittlung eigener Interessen und Vorstellungen mit denen anderer auch in diesem Fall nicht – weder sprachlich noch körperlich – erkennen. Der Protagonist bemerkt den Gewaltmechanismus, dessen Opfer er selbst geworden ist, in der Wiederholung nicht als eigenes Fehlverhalten. Er unterwirft sich damit Dominanzstrukturen und versucht, die Unterwerfung durch Gewalt selbst zu vollziehen. Sein Handeln übergeht rücksichtslos das freie Subjekt als Anderen und ist damit entkoppelt von sozial verträglicher, weil vermittelnder Interaktion.
Solidarische Selbstgespräche, zwei scheiternde Dialoge und Akte der Überredung
Während bisher die Perspektive der Figur ›Fritz Honka‹ im Fokus stand, wird im Folgenden gezeigt, wie sich die Figuren im Umfeld situativ in und mit Sprache verhalten. Dazu wird an drei Aspekten verdeutlicht, wie die Sprache erstens als solidarisches Selbstgespräch einseitig artikuliert und gemeinsam gehört wird. Dadurch wird sie zu einem Ort der sozialen Zugehörigkeit, verbleibt aber letztlich in ihrer Bedeutungskonstruktion singulär. Eine heterogene Differenzvermittlung findet nicht statt. Zweitens soll an scheiternden Dialogen gezeigt werden, wie die Sprache zwischen den Subjekten als verweigertes Zuhören oder fehlende Mitsprache zur Isolation der individuellen Rede führt. Abschließend soll drittens am Beispiel des Vorgesetzten Herrn Wolter gezeigt werden, wie Sprache auch im Umfeld der Figur ›Fritz Honka‹ und gegen sie als ständige Gewalt präsent ist. In Form der einseitigen Ansprache als Überredung des Subjekts wird eine Dominanzstruktur etabliert. Dieser Mechanismus wird zwar erkannt, aber zugleich auch durch dieselbe Figur angewandt. Im Fall der Anwendung wird dies aber nicht als Form der ausgeübten Gewalt wiedererkannt. Damit fehlt in der Sprache der Figuren ein reflexives Moment, das eine individuelle Problematisierung des subjektiven Verhaltens ermöglichen würde.
(a) Bruder Siggi als Alleinunterhalter, die schweigende Frau Voss und Fritz‘
Einer der wenigen verbliebenen, echten sozialen Kontakte von Fritz Honka ist sein Bruder Siggi. Das zeigt sich einerseits daran, dass er ihn in dessen Wohnung – also im privaten Bereich besucht (Strunk 2018: 75–83). Andererseits nennt Siggi seinen Bruder bei dessen eigentlichem Vornamen „Fritz“ (Strunk 2018: 75). Er hat ihm seinerzeit das Leben gerettet. Seit der ältere Bruder „sich umbringen wollte“ (Strunk 2018: 74), kümmert er sich um ihn. Mit seinem Gefühl der Fürsorge ist der Jüngere überfordert (Strunk 2018: 74). Der Ältere wiederum sieht in seinem jüngeren Bruder so etwas wie den Helden der Normalität.18
Bruder Siggi strahlt über beide Backen. Er sieht so normal aus, wie er ist, stets gut gelaunt, eine Frohnatur, wie man das sonst nur aus dem Rheinland kennt. Siggi hat einige Grundüberzeugungen, mit denen er bislang gut durchs Leben gekommen ist […]. Bruder Siggi hat eine ganz einmalige Ausstrahlung, der braucht auf seine Art nur «Salz ist alle» oder so was zu sagen, und alle lachen sich scheckig. Er kann denselben Satz aber auch so bringen, dass keiner lacht, schwer zu erklären (Strunk 2018: 75).
Die angewandte Sprache und die Präsenz des Bruders beeindrucken nicht nur die Figur ›Fritz Honka‹, sondern auch Gerda, die von ihm für das Essen gelobt und beim Nachnamen genannt wird (Strunk 2018: 77). Bruder Siggi steuert damit bewusst die soziale Interaktion. Er „hat gelernt, dass es mehr bringt, die Menschen zu ermutigen und zu loben, als sie andauernd fertigzumachen“ (Strunk 2018: 77). Entsprechend benutzt er die Höflichkeitsform im Umgang mit der unbekannten
Frau. Er respektiert sein Gegenüber im Moment der sich begegnenden Ansprache. Das hinterlässt Eindruck bei Gerda: „Seit langem mal wieder ein nettes Wort und dann noch «Frau Voss»!“ (Strunk 2018: 77). Dass er später in ihrer Gegenwart über Frauen als „Weiber“ (Strunk 2018: 79) spricht und offen zugibt, Männer gerne entlassen zu wollen, um deren Existenzen zu zerstören, hindert sie nicht daran, ihn als „herzensguten“ (Strunk 2018: 83) Menschen in Erinnerung zu behalten.
Mit seiner charakteristischen Art hat Siggi das Talent zum „Alleinunterhalter“ (Strunk 2018: 153). Er überspielt damit die fehlende Sprache der Vermittlung im Austausch mit seinem Bruder und der ebenfalls
schweigsam anwesenden Frau Voss.19 Das sozialintegrative Moment liegt im selbstständigen Sprechen in einfacher Sprache und in der Anwendung allgemein bekannter Redewendungen.20 Diese sind als Teil einer gemeinsamen,
historischen Sprachgemeinschaft nicht nur Repräsentationen des kollektiven Sinnverstehens jenseits der konkret-performativen Aussage, sondern sie kennzeichnen eben auch die gemeinsame Zugehörigkeit im notwendigen Prozess der fortlaufenden Vermittlung von Sprache als sich selbstständig erneuernde Grenzüberschreitung und als formelhafte Reduktion komplexer Wirklichkeit. In der einfachen Form bezeichnen sie das Unsagbare jenseits der Sprache und überwinden dadurch die Stille oder das Schweigen. Das inklusive Moment liegt in der sich selbst überschreitenden Aussage: „Das Leben ist ein großes Kartenspiel. Wenn du mitmischen willst, musst du nehmen, was ausgeteilt wird“ (Strunk 2018: 78). Sozial integrativ wirkt diese Formulierung, weil sie eine ungeschriebene Gesetzmäßigkeit behauptet, deren allgemeiner Charakter nicht im semantischen Bedeutungsverstehen zu suchen ist, sondern in
der individuellen Auslegung, die verhandelbar ist und das Gespräch als fortlaufenden Dialog so grundsätzlich ermöglicht. Gerade mit dieser offenen Form der Dialogizität ist die Figur ›Fritz Honka‹ aber überfordert (Strunk 2018: 75).
Bruder Siggi benutzt „Sprüche und Lebensweisheiten“ gezielt (Strunk 2018: 78), um die Stille situativ zu durchbrechen und einen Einstieg in das wechselseitige Gespräch zu ermöglichen und um den Raum durch Sprache zu füllen. Das funktioniert rudimentär, wenn die beiden Anwesenden zustimmend „nicken“ (Strunk 2018: 78). Viel weiter reicht die vermittelnde Rede aber nicht. Während des Essens reduziert sich die Sprache auf das Lautmalerische: „mjam mjam mjam“ (Strunk 2018: 78). Das führt immerhin dazu, dass die beiden ihn in seinem Verhalten und in seiner Sprache bestätigend imitieren und seine Laute wiederholen (Strunk 2018: 78). Durch dieses Minimum an resonanter Zustimmung
zeigt sich in der radikal reduzierten Kommunikation aber – und anders als in Fietes Sprechen mit Leiche und anders als in seiner Funktion als passiver Resonanzkörper für Soldaten-Norberts Rede – ein solidarisches Moment. Durch die soziale Interaktion wird das Selbstgespräch grundsätzlich dialogisch und sozial durch mehrere Subjekte aktiv konstituiert.
Dass die Begegnungen mit Bruder Siggi für ›Fritz Honka‹ eine gewisse sozial-solidarisierende Bedeutung haben, zeigt sich während der Hafenrundfahrt.21 Er versucht sich Witze des Touristenführers zu merken, weil sein Bruder einige davon eventuell noch nicht kennen könnte (Strunk 2018: 131). Er bereitet sich also auf eine mögliche Gesprächssituation vor, bleibt aber auch auf dem Schiff ausgeschlossen von der interaktiven Partizipation durch gemeinsame Sprache. In seiner Suche nach Normativität bewegt er sich am Rande und nicht innerhalb der Gruppe und letztlich nicht innerhalb der Sprachgemeinschaft. Er bleibt seinem singulären Denken verhaftet (Strunk 2018: 129–137). Bruder Siggi wiederum kennt das sprachliche Integrationsproblem seines Bruders sehr genau. Er erkennt das soziale Defizit darin. Während des gemeinsamen Kneipenbesuchs im „Handschuh“ spricht er ihn direkt auf seine Sprache an: „Mensch Fritz, hörssu [sic!] dir eigentlich selber manchmal zu?“ (Strunk 2018: 143). Nachdem Soldaten-Norbert einen „Zufallsgast“ (Strunk 2018: 142) lauthals angeht und Siggi feststellt „da will man doch nicht zugehören“ (Strunk 2018: 142), versucht der ehemalige Stammgast mit dem Spitznamen ›Fiete‹, dem Bruder die sozialen Verhaltensmuster und -regeln in seiner Kneipe zu erläutern. Doch Siggi bleibt dabei: „Hier gehörst du […] nich [sic!] mehr hin“ (Strunk 2018: 143). Das denkt der eigentlich auch (Strunk 2018: 143) und das kurze Gespräch mit Gisela scheint das sogar zu bestätigen (Strunk 2018: 146).
(b) Mädchenschule und Heilsarmee – zwei im Gespräch scheiternde Dialoge
Ausgehend von dem gemeinsamen Kneipenbesuch der Brüder wird eine weitere Ebene der sprachlichen Singularität und der damit verbundenen Unvermittelbarkeit deutlich: „Die Leute reden, sich überschneidend, asynchron und aneinander vorbei“ (Strunk 2018: 143). Das Kneipengespräch im „Handschuh“ funktioniert nicht als Miteinander, sondern Stimmen überlagern sich und Gespräche verlieren sich im direkten und gleichzeitigen Nebeneinander oder im beziehungslosen Ohneeinander. Das gemeinschaftliche Aufeinandertreffen im öffentlichen Raum der Kneipengesellschaft ist also nur eine Illusion der sozialen Gemeinschaft. Eigentlich lebt, trinkt und redet hier jeder für sich. Alle bleiben als Einzelne isoliert und gerade das wird durch die Anwesenheit verschiedener Anderer deutlich. So auch als Gisela, die Frau von der Heilsarmee, sich an den Tisch zu Inge, Agnes und Hildegart setzen will. In Inge beginnt sich in dem Moment alles zu regen: Sie „könnte schon wieder ausrasten“ (Strunk 2018: 91), denn sie „hasst Pfaffen und Betschwestern und den Papst und die Heilsarmee und alles, was mit Kirche zu tun hat“ (Strunk 2018: 91). Sie reagiert direkt körperlich auf die Ansprache der Frau in Uniform. Der Grund für die Abneigung liegt begründet in ihrer Kindheit an der katholischen Mädchenschule. Dort wurde sie von Nonnen sexuell missbraucht (Strunk 2018: 91f.). Jetzt nutzt sie die Gelegenheit und erzählt ihre Erlebnisse mit den „feine[n] Frauen“ (Strunk 2018: 92), aber niemand außer Gisela hört ihr zu (Strunk 2018: 91). Zu Gisela wiederum spricht sie aber nicht. Die Erzählung als Wiederholung der Ereignisse in der Sprache verändert ihre Person merklich: „Es ist, als sei ihre Stimme tief in den Hals gerutscht. Der Boden unter ihr ist entzündet. Erneut Schweigen im Walde. Alles Blut sammelt sich in Inges Gesicht“ (Strunk 2018: 92).
Während die körperliche Reaktion und die stimmliche Auswirkung darauf schließen lassen, dass das Aussprechen der eigenen Erfahrung als erneute Gewalterfahrung empfunden wird, ist auch in diesem Fall die Sprache als eigenständiger Gewaltmechanismus erkennbar. Inge findet nicht zum gewünschten Adressaten, obwohl sie ihre direkte Ansprache sogar aktiv hervorhebt: „Halloo! Hört hier einer zu?“ (Strunk 2018: 91). – Das ist bemerkenswert: Obwohl drei Frauen anwesend sind, verbleibt sie grammatikalisch im Maskulinum. – Sie scheitert in ihrer eigenen Sprache und in der dialogischen Vermittlung des Gesagten. Deshalb spricht sie in den für sie leeren Raum. Das individuelle Sprechen über die Erlebnisse im Kloster ist darüber hinaus verbunden mit der Etablierung einer intersubjektiven Dominanzstruktur. Durch das isolierte Sprechen über die Erfahrungen wiederholt sich die Gewalterfahrung als Mechanismus auf anderer Ebene: einerseits als sprachliche Erneuerung der Vorgänge, andererseits als Ausdruck ohne Gehör, d.h. ohne wechselseitige Bestätigung und damit sprachliche wie real-körperliche Resonanz. Gisela reagiert zwar antwortend auf Inge, ist aber durch die eigentliche Rede nicht gemeint. Die beiden anderen Frauen am Tisch schenken ihr – bis auf ein kurzes Lachen (Strunk 2018: 92) – keine Aufmerksamkeit. Dies wirkt als aktive Gewalt in der Sprache. Weil die beiden Frauen am Tisch die Äußerungen beinahe reaktionslos über sich ergehen lassen, aber keinen dialogischen Raum durch resonante Widerrede oder Zustimmung eröffnen, bleibt für Inge einzig der ungewollte Ausweg im kurzen Dialog mit Gisela, um das zur Sprache Gebrachte überhaupt als Teil einer dialogischen Vermittlung sozial existent zu machen. Im einzig möglichen Versuch und als letzten Ausweg stellt sich dann aber heraus, dass beide Frauen unterschiedliche und unvermittelbare Auffassungen vom Glauben, von Gott und von der Welt haben (Strunk 2018: 93). Ihre Stimmen bleiben unvermittelbar. Der kurze Austausch mit Gisela führt letztlich dazu, dass sich die ursprüngliche Sprecherin räumlich der Situation entzieht: Inge geht Zigaretten holen (Strunk 2018: 93).
Als Inge die Kneipe verlässt, wendet sich die Frau von der Heilsarmee Agnes zu. Die wiederum ist froh, dass Inge die Kneipe verlässt: „Sie kann das Böse und den Hass und die Gewalt und die unflätigen Ausdrücke kaum noch ertragen“ (Strunk 2018: 93). – Agnes hört zuvor also sehr wohl, was gesprochen wird, solidarisiert sich aber bewusst nicht mit der Sprechenden. Auch darin artikuliert sich letztlich eine Sprache der Gewalt. Zugleich empfindet sie den Vorgang und das Verhalten Inges selbst als Akt der Gewalt gegen sich einerseits und als wiedererlebte und neu miterlebte Gewalterfahrung andererseits. Anders als Inges ist Agnes‘ Reaktion nicht nach außen gerichtet und körperlich aufbrausend, sondern grundsätzlich still. Gisela redet mit zitierten Redensarten und Sprüchen auf sie ein. Auch sie bedient sich also der einfachen Sprache und kollektiven Sinnbilder. Gleichzeitig wirkt die floskelhafte Anrede von Gisela gegenüber Agnes und Hildegart mechanisch auf die Anwesenden ein. Agnes reagiert in wortlosen Gesten, also körperlich. Sie „räuspert sich“ (Strunk 2018: 95), aber zur Stimme findet sie nicht. Trotzdem trifft sie am Ende der einseitig geführten Unterhaltung ihre eigene Entscheidung. Auch aus Angst vor Inges Wiederkehr nimmt sie das Angebot der Frau in Uniform an und geht mit ihr mit (Strunk 2018: 95). Da Hildegart „alles egal [ist]“ (Strunk 2018: 95), geht auch sie mit: „Sie macht, was man ihr sagt“ (Strunk 2018: 95), auch sie hat keine eigene Stimme und verbleibt im Schweigen, in ihrer Entscheidung und ihrem persönlichen
Handeln letztlich als real-körperliche wie sprachliche Erscheinung nahezu unsichtbar.
(c) „Arbeitskraft zweiter Klasse“ (Strunk 2018: 112) vs. „Da mussu auch erst ma hinkomm, Herr Honka“ (Strunk 2018: 111)
Kennzeichnend für die Sprache im goldenen Handschuh sind Szenen, in denen sich hierarchisches Sprechen als Dominanzverhältnis offensichtlich zeigt. Das Prinzip wiederholt sich in verschiedenen Konstellationen
und wird von Figuren und auch im Erzählen selbst nicht als solches direkt erkannt oder bezeichnet. Wenn eine Reflexion über die Gewalt der Sprache stattfindet, dann erfolgt diese passiv mit Blick auf die eigene Erfahrung in der Rolle als angesprochenes oder übersprochenes Subjekt. Im individuellen Handeln durch Sprache als eigene Rede wird die vorausgegangene Gewalterfahrung wiederum nicht reflektiert und konstruktiv in eine Gewaltvermeidungsstrategie umgesetzt. Es kommt, ganz im Gegenteil, zur Wiederholung der Gewalt durch die Sprache als radikal-rücksichtsloser Ausdruck des Eigenen über den Anderen und damit zur re-etablierenden Konstatierung des sozial-übergreifend dominierenden Mechanismus der Sprache als Gewalt generell. Dies zeigt sich exemplarisch am ersten Arbeitstag im Dialog zwischen Herrn Honka und Herrn Wolter.
Als ›Fritz Honka‹ seine neue Arbeit als Nachtwächter beginnt, kann er „sich nicht daran erinnern, zum Einstand jemals so freundlich begrüßt worden zu sein“ (Strunk 2018: 110). Der Mann, der ihn in seine neue Aufgabe einweist, der ihm seine übergroße Uniform samt Messer und Gaspistole überreicht und der sein direkter Vorgesetzter ist, macht auf den neuen Angestellten zunächst einen sympathischen „Eindruck“ (Strunk 2018: 111). Dann mustert der ihn nach dessen äußerem Erscheinungsbild und kommt zu dem wortschöpfenden Schluss, der Mann sei „[e]in Hundfisch“ (Strunk 2018: 110). Nachdem die Kategorie gefunden ist, stellt der neue Mitarbeiter fest: Er „freut sich darauf, gleich allein
zu sein“ (Strunk 2018: 110). Den sprachlichen Gewaltmechanismus, den er in der Begriffsfindung auf das andere Subjekt anwendet, erkennt er nicht. Die Beleidigung bleibt performativ unausgesprochen. Für das Gespräch hat der Neue „sich ein paar […] Sätze zurechtgelegt“ (Strunk 2018: 111). Er imitiert die Technik seines Bruders und ist damit zunächst erfolgreich. Als Herr Wolter ihn dann zum Büro führen will, kommt es zum gewaltsamen Bruch der zuvor etablierten Kommunikationsstruktur. Die mittelbare Distanz wird als intersubjektive Grenze zwischen den beiden Gesprächspartnern und Arbeitskollegen aufgebrochen. Der direkte Vorgesetzte wechselt aus der Höflichkeitsform in die zweite Person Singular, also in die personale Anrede: „So, Herr Honka, bevor ich Sie sich selbst überlasse, zeig ich Ihnen aber noch dein Büro“ (Hervorhebung C.F., Strunk 2018: 111). Diese Regelverletzung richtet sich direkt gegen das angesprochene Subjekt und stellt dieses als zu respektierendes Gegenüber nicht nur in Frage, sondern bricht die soziokulturelle Regel der Selbst-durch-Fremdbestimmung gezielt. Das Subjekt wird situativ vom Kontext des gemeinsamen Sprechens enthoben und in seiner Selbstkonstitution als Realexistenz hinterfragt. Damit handelt es sich um eine direkte Form des verletzenden Sprechens.
Was zunächst als sympathische Annäherung verstanden werden kann, stellt sich als gezielte Demütigung und Machtdemonstration des Vorgesetzten heraus. Als der offizielle Teil der Einführung zu Ende scheint, geht er im dominierenden Sprechen ansatzlos in die Darstellung der eigenen Sexualität über und verlässt damit den beruflichen Kontext auch inhaltlich: „Gestern Nacht hab ich meine Frau gefickt. Bestimmt ’ne Stunde ging das […]“ (Strunk 2018: 111). Damit stellt er nicht nur private Details aus dem Eheleben mit seiner Frau in den Raum, sondern er stellt den neuen Kollegen in der Konfrontation durch seine übergriffige Rede geradezu herausfordernd bloß:
Fiete ist sprachlos. Wieso erzählt der das, was hat er davon? Das ist auf jeden Fall nicht in Ordnung, eine richtige Schweinerei, und dann gleich am ersten Tag. Der macht den guten ersten Eindruck gleich wieder kaputt, der macht alles kaputt (Strunk 2018: 111).
Die Situation des Sprechens und Handelns ist auf Textebene ähnlich konstruiert wie die spätere Vergewaltigung von Helga Denningsen. Die Wortwahl der Figur ›Fritz Honka‹ gleicht auf mimetische Art und Weise der Sprache des Vorgesetzten am ersten Arbeitstag (Strunk 2018: 165). Auch Herr Honka will jetzt, nach der Aufnahme der neuen Arbeit, den nächsten Schritt in der sozialen Hierarchie machen. Durch das Finden seiner Frau soll die gesellschaftliche Integration auch sexuell erfolgreich vollzogen werden. Dabei ignoriert er die Perspektive der Betroffenen und er wiederholt – sprachlich – den Gewaltakt, der an ihm verübt worden ist. In erster Aktion ist in beiden Szenen der Sprechende derjenige, der den aktuellen Kontext durch das Thema der Sexualität bricht. In erster Reaktion sind die Angesprochenen in beiden Fällen als Betroffene gleichermaßen „sprachlos“ (Strunk 2018: 111 u. 165). Helga ist an entscheidender Stelle jedoch nicht wehrlos. Sie leistet im Moment der gegen sie ausgeführten körperlichen Gewalt ebensolchen Widerstand und entflieht der Situation (Strunk 2018: 165) – und sie kündigt ihre Arbeit darauf (Strunk 2018: 189). Sie riskiert also in der Flucht sogar ihre ökonomische Existenz. Für Fiete alias ›Fritz Honka‹ verbleibt die erlebte Gewalt in der Szene mit seinem Vorgesetzten in der Sprache. Ihm fehlen Mittel zur Gegenwehr. Er flüchtet nicht. Dadurch kann Herr Wolter noch einmal nachsetzen:
Wolter setzt nach. «Richtig fertiggemacht hab ich sie. Wir bumsen viermal die Woche. Und das nach dreißig Jahren. Da mussu auch erst ma hinkomm, Herr Honka, das mussu erst ma schaffen.» (Strunk 2018: 111).
Gleich am ersten Arbeitstag sieht sich der angesprochene Herr Honkaunvermittelt und hilflos der direkten und übergriffigen Ansprache des Vorgesetzten ausgesetzt. Anders als im Fall der Vergewaltigung kommt es hier nicht zur körperlichen Gewalt im engeren Sinne (vgl. Butler 2018 zur „gewaltsamen Rhetorik“, s.o.) – dennoch ist die Sprache in beiden Fällen situativer Ausgang einer unrechtmäßigen Grenzüberschreitung. Das individuelle Freiheitsrecht des und der jeweiligen Anderen wird in beiden Fällen radikal übergangen. Im Falle der Vergewaltigung folgt auf die Reaktion durch Sprachlosigkeit direkte körperliche Gewalt. Im Gespräch zwischen Herrn Wolter und dem neuen Mitarbeiter bleibt diese aus. Aber das verletzende Sprechen wird noch forciert. In diesem Fall bleibt eine direkte Reaktion des angesprochenen und gewaltsam dominierten Subjekts aus. Weder Zustimmung noch Widerspruch erfolgen. Lediglich durch die interne Fokalisierung der Figur ›Fritz Honka‹ erfahren wir von einer Irritation des Betroffenen:
Hä? Eine Unverschämtheit, ihn, den neuen Mitarbeiter, derart in Verlegenheit zu bringen. Der benimmt sich doch bestimmt nicht jedem gegenüber so, denkt Fiete, aber mit mir kann man es ja machen, der sieht bestimmt, woher ich komme und was für einer ich bin. Eine Arbeitskraft zweiter Klasse (Strunk 2018: 111).
Die Aussagen von Herrn Wolter beschäftigen ›Fritz Honka‹ aus zwei Gründen: Erstens trifft der Vorgesetzte ja den Nagel auf den Kopf, denn das neue Beschäftigungsverhältnis als Arbeitnehmer ist beim Protagonisten im Selbstverständnis verbunden mit der Hoffnung auf eine neue Frau (Strunk 2018: 109 u. 116). Er sucht den sozialen Aufstieg durch die Arbeit und innerhalb bestehender Verhältnisse.22 Dass die Arbeit als Nachtwächter seine soziale Stellung in der Isolation geradezu festigt – gleich am ersten Arbeitstag kommt dem Protagonisten zu Dienstbeginn die gesamte Belegschaft im Feierabend entgegen – blendet er aus (Strunk 2018: 109f.). Was Herrn Honka von Herrn Wolter ganz offensichtlich nur – noch – zu unterscheiden scheint: Die willentlich unterworfene Frau als ständiges Sexualobjekt und frei verfügbares Eigentum. Zweitens sieht sich der Angesprochene zugleich und plötzlich mit dem
eigenen Vorurteil gegen den Anderen und der eigenen Gewalt in der Sprache konfrontiert: Wenn Herr Wolter ein „Hundfisch“ (Strunk 2018: 110) ist, aber sozial eine erfolgreichere Position besetzt, was ist dann der Mann in der übergroßen Uniform?
Die Figur ›Fritz Honka‹ sieht sich dem verletzenden Sprechen ausgesetzt und bemerkt sprachliche Gewalt. Wenngleich die Reflexion der eigenen sozialen Stellung eine Erklärung im Unterschied der Klassen benennt (Strunk 2018: 111), kann die Sprache der Gewalt wiederum als Mechanismus des dominierenden Sprechens nicht erkannt und bezeichnet werden. Eine weiterführende Kritik des übergriffigen Sprechens wird nicht formuliert. Damit bleibt das durch die Begegnung provozierte, emanzipatorische Potenzial zur Selbstbestimmung durch Sprache unausgeschöpft. Das zeigt sich auch darin, dass eine Widerrede nicht erfolgt. Einerseits kommt es trotz des individuell erkannten und erfahrenen Unrechts auf Ebene der Figur ›Fritz Honka‹ in Form der Bezeichnung des Vorgesetzten zu einer Wiederholung des verletzenden Sprechens. Der Protagonist formuliert eine diffamierende Kategorie für sein Gegenüber. Als dieser ihn sprachlich herausfordert, bleibt – trotz Irritation und innerem Ungerechtigkeitsempfinden – eine aktive Widerrede als situativer Widerstand aber aus. Das dominierende Sprechen des Herrn Wolter gelingt. Demgegenüber bleibt die Gewalt der Sprache der Figur ›Fritz Honka‹ unausgesprochen. Andererseits wiederholt er den Mechanismus der übergriffigen Rede gegenüber Helga Denningsen im Vorfeld der Vergewaltigung. Dass die Figur ›Fritz Honka‹ an der Stelle keinen Perspektivwechsel vollzieht, bestätigt die fehlende Vermittlungsfähigkeit der Sprache auf Ebene des dargestellten Subjekts. Während die Vergewaltigung aus der Sicht des ausführenden Täters ›Fritz Honka‹ geschildert wird und
eine Darstellung der Innenperspektive des Opfers ausbleibt, wird in der Szene des verletzenden Sprechens durch Herrn Wolter allein die interne Fokalisierung der Figur ›Fritz Honka‹ dargestellt. Das führt dazu, dass in einer Figur – sprachlich wie körperlich – sowohl die Opfer- als auch die Täter-Perspektive unvermittelt nebeneinander formuliert werden. In den jeweiligen Szenen findet ein Wechsel zwischen verschiedenen Perspektiven nicht statt. Dadurch stehen die Figuren, ihre Sprache und das übergriffige Handeln als radikale Individualität auf Kosten der Unterordnung eines anderen Subjekts mechanisch im Raum. Weil die Figur ›Fritz Honka‹ die Gewalt der Sprache selbst erfährt, rudimentär erkennt, aber als solche nicht reflexiv und kritisch begreifen kann, verbleibt sie im eigenen Handeln gefangen im Muster der Gewalt. Sie hinterfragt zwar kritisch, was ihr selbst widerfährt – wägt aber nicht ab, was durch
ihr eigenes Handeln dem oder der jeweiligen Anderen widerfährt.
Selbst während der Begegnung im Zoo verweilt die Figur in der Selbst- als Fremdwahrnehmung und in der singulären Perspektive. Die Möglichkeit der perspektivischen Vermittlung durch Sprache sucht ›Fritz Honka‹ nicht, weder im Zoo noch mit Herrn Wolter und auch nicht mit Frau Denningsen. In letzterem Fall ist dies geradezu tragisch für die Entwicklung der Figur, da sich hier eine solidarische Beziehung zwischen den gemeinsam Nachtarbeitenden zu entwickeln schien. Dass im Fall der Vergewaltigung der körperliche Übergriff das individuelle Verhalten radikalisiert und die Sprache als intersubjektiv vermittelten Handlungsspielraum und als Ort der differenzierenden Bedeutungskonstruktion
grundsätzlich aufgibt, führt zur rücksichtslosen Verstärkung der Gewalt gegen das fremde, aber auch gegen das eigene Subjekt. Jegliche Form der sozialen Struktur wird bedingungslos preisgegeben. Die selbst erfahrene Gewalt wird nicht zum Katalysator emanzipatorischer Selbst- und Weltkonstruktion in einer neuen Wirklichkeit ohne Gewalt, sondern die erlebte Gewalt wird unreflektiert durch das Subjekt wiederholt. Die so exekutierte, radikale Individualisierung der Figur ›Fritz Honka‹ führt über die Sprache der Gewalt direkt in die Isolation eines Sprachlosigkeit durch Gewalt überschreitenden Einzeltäters. Schließlich ist das Ergebnis dessen nichts Anderes als die Verdopplung der Sprachlosigkeit. Diese wiederum bestätigt die isolierte Position im sprachlosen Raum jenseits der Gesellschaft.
Die Stimme der Erzählung als befangene Beschreibung
Das auktoriale Erzählen in Heinz Strunks Der goldene Handschuh ist wesentlich durch das Widerspiel von kurzen Dialogen und längeren Monologen geprägt. Es ist außerdem dadurch bestimmt, dass in wechselnder Fokalisierung Gedanken und Vorstellungen als Innenansichten der Figuren gegeneinandergestellt werden. Die vorgetragenen Handlungen und Perspektiven der einzelnen Figuren bleiben in aller Regel unvermittelt. Die über die wörtliche Rede hinausreichende, erzählende Darstellung des singulären Denkens ist wesentlich notwendig, da nur so der performativ vor- und damit außersprachliche Ausdruck der verschiedenen Subjekte überhaupt artikuliert werden kann. Dieses Erzählen außerhalb der wörtlichen Rede ist selbstverständlich, will man den Roman nicht allein in Dialogen schreiben oder ihn als Gattung und Grundlage der Darstellung insgesamt aufgeben. Gleichwohl lässt sich genau darin
ein technisches Moment der sich wiederholenden Gewalt durch Sprache erkennen, das abschließend kritisch aufgezeigt werden soll. Die Erzählung beginnt im ersten Teil mit einem Besuch in der Kneipe „Zum goldenen Handschuh“ aus der Perspektive eines neuen Kneipengastes. Die Konstellation gleicht zunächst der protokollierenden Observation von Winfrid Schuldig (Strunk 2018: 8f.). Allerdings wird gleich zu Anfang des ersten Teils die dokumentarische Text- und Sprachkonstruktion in den Modus des Erzählens überführt und damit subjektiviert. Man kommt in den Raum, bleibt und beobachtet. Man sieht den Mann, der später mit seinem Spitznamen bezeichnet werden wird. Noch ist er
der Unbekannte am Tresen (Strunk 2018: 15f.). Dem resonanzlosen Körper und Nebenmann erzählt er gerade davon, dass „ein Verrückter […] kein andern [sic!] Gedanken [hat] als jeder andre normale Mensch auch, aber bei ihn [sic!] sind sie sicher im Kopf eingesperrt“ (Strunk 2018: 16). Wie aber kommt man dann an das, was außerhalb des performativen Sprechens, also auch außerhalb der wörtlichen Rede stattfindet? Das ist das auktoriale Dilemma, das gleich zu Beginn zur Disposition gestellt wird. Als objektiver Beobachter sammelt man Informationen, blickt auf das Handeln und interpretiert das damit verbundene Verhalten. Unbemerkt hat die erzählende Instanz so mittlerweile, die vom äußeren Erscheinungsbild ableitende Bezeichnung „der Schiefe“ (Strunk 2018: 15). für den Unbekannten eingeführt. Noch bevor die Figur ›Fritz Honka‹ dem*der Lesenden als Protagonist durch den Spitznamen bekannt gemacht
wird, verbleibt die erzählende Instanz im deskriptiven Modus und in der dritten Person Singular. Aus der Distanz wird das Gespräch verfolgt, werden Zigaretten mitgezählt und die Menge an getrunkenem Alkohol wird festgestellt (Strunk 2018: 17). Dann verlässt der Beobachtete den Tresen:
Er geht nach hinten zu den Schimmligen, um eine Runde zu schlafen. Die Schimmligen heißen nicht nur so, sie sehen auch so aus. Der Schiefe hält seinen Schädel in den Händen wie eine aufgeschnittene Melone, bevor er ihn auf den Ellenbogen ablegt. Im Moment des Ablegens ist er weg. Wenn der Schlaf kommt, dann plötzlich und kurz. Er schläft nie länger als eine Stunde (Strunk 2018: 17f.).
Die Bezeichnung „die Schimmligen“ (Strunk 2018: 17) wird als zitierendes Sprechen übernommen. Erklärend wird hinzugefügt, dass sich dieser Sammelbegriff von der gemeinsamen, äußeren Erscheinung der Gruppenzugehörigen ableitet. Hinterfragt wird diese Begriffsfindung nicht. Es handelt sich um übliche Rede. Für Personen und Gruppen werden alternative Namen gefunden. Wenn sie als Beleidigung im Raum stehen, dann „lachen“ (Strunk 2018: 26) die Leute. Besondere Spitznamen gelten als Merkmal der sozialen Zugehörigkeit und verweisen auf einen Klassenunterschied. In der Erzählung wird dieser Modus des Sprechens reproduziert. So kommt auch der Unbekannte am Tresen zu
seinem vorläufigen Namen. Aber ist dieser allein die externe Zuschreibung des Beobachters oder eine interne Bezeichnung des sich selbst beobachtenden Subjekts? Neben den deskriptiven Spitznamen tritt in der Folge ein zweiter:
Er weiß nicht mehr, von wem und warum, Fiete, das klingt sympathisch, pfiffig. Ein schmales Grienen huscht über seine Züge, richtig zu lächeln traut er sich nicht, wegen seines verzogenen Gesichts (Strunk 2018: 18).
An dieser Stelle treffen interne und externe Fokalisierung von Figur und Erzählung aufeinander. Es ist unklar, ob die dokumentarische Beobachtung in eine interpretatorische Überformung der Situation kippt oder ob die interne Fokalisierung der Figur ›Fritz Honka‹ hier darauf verweist, dass diese sich selbst aus der auktorialen Distanz beschreibend in die Erzählung einführt. Ist „der Schiefe“ (Strunk 2018: 15) nichts Anderes als das gezeichnete Selbstbild des Protagonisten, dem das gefälligere Fremdbild „Fiete“ (Strunk 2018: 18) gegenübergestellt wird und sind beide nur zwei unterschiedliche Blickwinkel des Selbst auf die Figur ›Fritz Honka‹?23 – Diese Frage ist eindeutig schwer zu beantworten, da auch im weiteren Verlauf eine ambivalente Hybridität im unvermittelten Nebeneinander von auktorialer Erzählung und interner Fokalisierung existent bleibt. So begleitet man die Figur ›Anna‹ beim Toilettengang.
Aus der internen Fokalisierung der Figur heraus wird die Wahrnehmung des Raums, des Handelns und des physischen Zustands beschrieben.
Wieso hat noch niemand dieses Nest ausgehoben? Sie schleppt sich aufs Klo. Bräunlich-roter Urin rennt aus ihr heraus, die bleierne Scheiße bleibt. Panisch ruckt sie mit dem Kopf wie eine Taube. Ruckedigu (Strunk 2018: 216).
Lautmalerisch wird die Bewegung des Körpers durch die Imitation der tierischen Stimme kommentiert. Das erinnert technisch an die Szene mit Bruder Siggi, dem Bruder Fritz und Gerda beim gemeinsamen Essen (Strunk 2018: 78). Im Unterschied dazu handelt es sich hier aber um eine nicht performative Passage des singulären Subjekts. Liest man die Passage als interne Fokalisierung der Figur ›Anna‹, dann richtet sie sich gegen den eigenen Körper. Sie erniedrigt sich im selbstverletzenden Sprechen, sehr ähnlich wie die Figur ›Fritz Honka‹, wenn man „den Schiefen“ (Strunk 2018: 15) als Selbstbild begreift. Neben die Lesart als Modus des inneren und gewaltsamen Sprechens gegen sich selbst tritt
der Eindruck der interpretatorischen Überformung des dargestellten Subjekts durch den übergriffigen Blick der beobachtenden und erzählenden Instanz. Durch das Hinzutreten der wortgewandt kommentierenden Stimme entsteht eine Unschärfe in der Sprache der Beobachtung und in der distanzenthobenen Vermittlung der Figurenkonstruktion. Neben die reflexive Selbstbestimmung tritt ein voyeuristischer Blick der Fremdbestimmung. Dieser wird durch die erzählende Rede artikuliert. Dabei wiederholt sich in der erzählten Rede der Modus des verletzenden Sprechens auf Ebene des Erzähltextes. Somit wird eine Sprache der Gewalt auf Textebene reproduziert. Ausdruck dessen ist auch das Missverhältnis auf Ebene der verschiedenen Figuren und ihrer jeweiligen Figurensprache.
Nimmt man die Darstellung der Figur ›Anna‹ wirklich ernst, so stellt sich die Frage, woher ein menschliches Subjekt, das derart physisch mit dem eigenen Zustand zu kämpfen hat, die Fähigkeit nimmt, die Situation analytisch klar und absolut rational in eine eloquente Sprache zu überführen. Das sprachliche Denken der Figur scheint völlig gelöst und, unabhängig vom körperlichen Zustand, souverän zu funktionieren. Diese Beobachtung lässt sich auch auf Ebene der Figur ›Fritz Honka‹ machen. Auch hier bleibt die Frage offen, wie ein Subjekt, das in beinahe jeder Situation mit dem sprechenden Handeln überfordert ist, im eigenen Denken wiederum stets erzählerisch souverän und absolut wortgewandt agieren kann:
Er ist derart auf hundertachtzig, hundertneunzig, dass er noch was auszuprobieren will [sic!], etwas, das er später auch mit Rosi machen wird. Er schiebt Gerda eine Bockwurst rein, die war noch im Kühlschrank. Gerda macht keinen Mucks und wartet, was sonst noch kommt. Er bewegt die Wurst langsam hin und her, vor und zurück, bis sie in der Mitte durchbricht. Von seiner Hälfte beißt er ab. Schmeckt ganz gut, denkt er, er hat ja auch noch nichts Richtiges gehabt heute (Strunk 2018: 49).
In der zitierten Szene werden zwei anwesende Personen beschrieben. Die Figurenperspektiven werden gegeneinander gestellt. Gesprochen wird zwischen beiden Figuren nicht. Will man im dokumentarischen Stil aus der Distanz berichten, müsste man sich auf wörtliche Rede und äußere Beobachtung beschränken. Wie will man aber genau das erzählen, was außerhalb der Sprache stattfindet – wie schafft es die Sprache, handlungsfähig zu bleiben und genau diesen Wirklichkeitsraum expansiv zu erschließen? Im widersprüchlichen Gegeneinander von erzählerisch- eloquent konzipierter Figurensprache auf Ebene des Denkens, als nicht-performatives Sprechen, einerseits und der Reduktion der wörtlichen Rede andererseits, offenbart sich das Problem des Erzählens aus der Distanz. Wer das Private oder intimes Geschehen beobachtet und darüber berichtet, ist auf das Sichtbarmachen der Handlung und das Kommentieren der gesprochenen Sprache angewiesen. Allein auf Ebene der wörtlichen Rede findet im gesamten Roman kaum sichtbares Handeln statt, das man chronologisch auslegen und sachlich interpretieren könnte. Deshalb tritt neben die externe die interne Perspektive als eine auktorial vorausdeutende Beobachtung, die das Denken erzählerisch dem Handeln vorschaltet. Damit wird der objektiv berichtende Stil verlassen. Die erzählende Instanz stellt sich im Bemühen um soziale
Vermittelbarkeit des singulären Handelns solidarisch an die Seite der jeweiligen Figur und begleitet den Dialog des Denkens auf Ebene der Figur. Dadurch wird das außersprachliche Handeln einerseits kommunikativ erschlossen, andererseits etabliert sich gleichzeitig ein Dominanzverhältnis der erzählenden Instanz gegenüber der erzählten Figur, die fremdbestimmt und als Selbst aktiv beschrieben und dadurch bezeichnet wird, – und werden muss, um sozial überhaupt ein Bestandteil der Sprachgemeinschaft zu sein.
4. Schluss
Dieser Beitrag hat gezeigt, dass sich die Gewalt in der Sprache in Heinz Strunks Der goldene Handschuh nicht auf Darstellungsformen der körperlichen Gewalt reduzieren lässt. Durch die Sprache selbst wird Gewalt ausgeübt. Dies betrifft Formen des Sprechens auf Dialogebene und auch die Form des Erzählens. Auf Ebene der Figuren stehen Dialoge und Monologe unvermittelt im Raum. Das vor- und außersprachliche Denken tritt nur schwerfällig in der performativen Rede hervor. In Situationen des begegnenden Sprechens verbleiben Figurenperspektiven einseitig im Raum oder stehen isoliert gegeneinander. Auf Ebene des Erzählens steht die performativ hervorgebrachte Sprache der Figuren im Gegensatz zur vor- und außersprachlichen Ebene des vermittelnden Denkens der jeweiligen Figur. Die erzählende Instanz tritt als kommentierender Beobachter und die Sprache dominierender Vermittler hinzu. Im Nebeneinander
der Selbst- und Fremdkonstruktion auf Ebene des konstruierten Subjekts kommt es so zu einer Überzeichnung der Figuren. Dadurch wird der Mechanismus der Sprache als Gewalt nicht nur dargestellt, sondern auch durch die erzählte Rede selbst reproduziert.
Auf Grundlage von Judith Butler wurde gezeigt, wie die Sprache als direkte Gewalt im intersubjektiven Dialog wirken kann. Am Beispiel der Namensgebung wurde das körperliche Sprechen als Fremdkonstitution des singulären Selbst aufgezeigt. Durch die unvermittelte Bezeichnung des freien Individuums, also ohne Einbeziehung des besprochenen Einzelnen, wird die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Sprachraum eröffnet. Individualität kann in der Folge durch Abgrenzung innerhalb der Gruppe erkannt und benannt werden. Diese mögliche Erfahrung geht auf Kosten der Erfahrbarkeit von radikaler Singularität. Weil die Sprache zugleich durch den Körper selbst konstituiert wird, aber auch den einzelnen Körper im sozialen Raum in seiner Existenz durch Sprache konstituiert, steht die Bezeichnung im Eigennamen stellvertretend für die soziale Konstitution des Subjekts durch Sprache als verletzendes Sprechen. Dieser Mechanismus ist wirksam, da die kollektive Sprache selbst auf die ständige Vermittlung eines inneren Widerspruchs angewiesen ist. Einerseits muss das Neue als ursprünglicher Bedeutungsraum erschlossen werden. Dazu ist die Reduktion von Komplexität erforderlich. Ein Minimum der Gewalt wird deshalb in jedem bezeichnenden Sprechen zwischen verschiedenen Subjekten ausgeführt. Dies dient zum einen dazu, (a) die Subjekte als Verschiedene innerhalb der kollektiven Sprachgemeinschaft sozial zu etablieren. Zum anderen dient dies dazu, (b) die Sprache selbst als kategoriale Möglichkeit der begrifflichen Erschließung einer pluralen Welt und als grundsätzlich bedeutungsoffenes Instrument zu verstehen. Andererseits ist jedes expansiv fortschreitende Sprechen eine Form des verletzenden Sprechens. Ursprüngliche Singularität wird durch den Akt des Bezeichnens normativ subsummiert. Auch eine polyvalente Sprache der Pluralität ist auf einen solchen Mechanismus der begrifflichen Verkürzung angewiesen. Die Benennung von Vielfalt durch das Konkrete schafft Welt als Wirklichkeit durch Sprache. Erst die Setzung von Kategorien, Begriffen oder Bezeichnungen eröffnet kommunikative Handlungsspielräume. Um innerhalb dieser Grenzräume handlungsfähig zu bleiben, ist die Abweichung von der lokalen Statik existentiell notwendig. Um feste Begrifflichkeiten oder einseitig begründete Kategorien zu überwinden und damit eine Welt der Sprachlosigkeit im Sprechen zu überwinden, muss sich Sprache durch die permanente Grenzüberschreitung ständig neu und expansiv als das Neue konstituieren. Grundlage dessen ist immer ein letzter Akt der Gewalt im sprechenden Handeln.
Das Unsagbare zu erschließen, ist der expansive Impetus der Sprache. Da es nicht Ziel der hier vorgetragenen Rede ist, die Sprache gegen sich selbst ins Feld zu führen, wurden im Anschluss an die Ausführungen zur Sprache der Gewalt verschiedene Beispiele zur grundsätzlichen Sensibilisierung vorgetragen. Damit wurde der Mechanismus der Gewalt auf Ebene der Sprache grundlegend beschrieben und rhetorisch gekennzeichnet. Ziel der Ausführungen ist die reflexive Sensibilisierung für eigene und für fremde Sprache mit der Intention der gewaltfreien Vermittlung von Singularität und Pluralität durch eine gemeinsame Sprache jenseits der Gewalt.
5. Literatur
- Butler Judith (2018): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Kathrina Menke und Markus Krist. Hier zitiert nach der 6. Aufl., 1. Aufl. 2006. Titel im Original: Butler Judith (1997):
Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York: Routledge. - Kaube Jürgen: Solange es solche Menschen gibt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ.NET. URL: https://www.faz.net/-gr0-8dnho, aktualisiert am 17.02.2016 (07.06.2019).
- Strunk Heinz (2018): Der goldene Handschuh. Hier zitiert nach der 3. Aufl., 1. Aufl. 2016. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Anmerkungen
- Ich lege den Fokus in der Darstellung auf die Figur ›Fritz Honka‹ und klammere damit die Spiegelung im Milieu der von Dohrens aus. Wesentliche Aspekte der Darstellung ließen sich aber auch daran zeigen.
- Die Kneipe „Zum goldenen Handschuh“ als Handlungsort wird eingeführt (Strunk 2018: 17). In der Folge wird hierfür die Kurzform der „Handschuh“ verwendet. Wenn der Roman bezeichnet wird, wird der Titel kursiv gesetzt
- Vgl. dazu die im Folgenden vorgetragenen Beispiele.
- Hier wesentlich die Erfahrungen bei Bauer Frerk (Strunk 2018: 158–161).
- Die Hervorhebung zielt auf die juristische Kategorie. Die Sichtbarkeit und das Sprechen „darüber“ werden mehrfach im Roman problematisiert.
- „Selbst mit Gerade oder Herta hatte es so etwas wie Normalität gegeben […
- Am Folgetag wendet er sich direkt gegen das körperliche Geschlecht der Toten (Strunk 2018: 220).
- Den Aspekt des Kontrollverlusts durch Sprache leitet Butler nach Foucault her
(Butler 2018: 51). - Hier in der Hervorhebung zur Kennzeichnung der klaren Trennung der Figur von
der realhistorischen Person. - „redet auf seinen Nebenmann ein“ (Strunk 2018: 15).
- „Leiche reagiert nicht“ (Strunk 2018: 16).
- „Nichts bist du wert, hörst du?“ (Strunk 2018: 21).
- Ihr stellt er sich selbst sogar mit dem neuen Spitznamen vor (Strunk 2018: 27).
- „Fiete geht’s nicht gut, ihm ist elend zumute, er fühlt sich einsam“ (Strunk 2018: 25).
- Er bezeichnet sie als „Hexe“ (Strunk 2018: 153).
- Sie feiern zunächst ihren Geburtstag (Strunk 2018: 147), dann seinen (Strunk 2018: 155).
- „Eigentlich passt sie besser zu mir, denkt Fiete, denn wir sind aus einem Holz“ (Strunk 2018: 148).
- Vgl. dazu kritisch den Aspekt der „Heldenverehrung“ (Strunk 2018: 28).
- „Statt zu antworten oder zu lachen, wendet sich Gerda wieder der Suppe zu“
(Strunk 2018: 76). - Vgl. dazu auch die Figur Fanta-Rolf (Strunk 2018: 23).
- „Quellentaler Spätlese kennt er auch, von Bruder Siggi, ein witziger Ausdruck für
Leitungswasser“ (Strunk 2018: 129). - Er kleidet sich neu ein und träumt vom Führerschein und einem eigenen Auto (Strunk 2018: 147).
- Ein weiteres Indiz für die grammatikalische Selbstentfremdung bietet die Tatsache, dass er sich später selbst in der dritten Person anspricht: „Was sich ein Honka vornimmt, das schafft er auch“ (Strunk 2018: 200).